Die Armut wird sichtbar

Seit zehn Jahren verteilt die Initiative »Laib und Seele« Lebensmittel an Bedürftige

  • Josephine Schulz
  • Lesedauer: 3 Min.
Fast 50 000 Menschen nehmen die Hilfe regelmäßig in Anspruch. Manche sehen in der Spendenaktion ein Versagen der Politik.

In einer Kiste trägt Michael Müller (SPD) heran, was die bürgermeisterliche Küche hergibt: Nudeln, Konserven, Backmischungen. Seine Lebensmittel landen auf einem Tisch in der Berliner Marienkirche, neben den Halberstädter Würstchen von Wolfgang Thierse. »Eine Delikatesse aus der DDR«, sagt der ehemalige Bundestagspräsident stolz. Es ist kein Politiker-Picknick, das hier am Samstagvormittag stattfindet, sondern eine Spendenaktion für die Initiative »Laib und Seele«. Die Kooperation der Berliner Tafel und des rbb unterstützt in 45 kirchlichen Ausgabestellen seit zehn Jahren bedürftige Menschen mit Lebensmitteln. Das Jubiläum wird mit einer berlinweiten Großspendenaktion begangen.

Rund 600 000 Menschen gelten in der Hauptstadt als bedürftig. Laut Sabine Werth von der Tafel, die das Projekt zusammen mit Friederike Sittler vom rbb ins Leben gerufen hat, nehmen 48 000 von ihnen die Hilfe regelmäßig in Anspruch.

Einmal wöchentlich haben die Ausgabestellen in den Kirchen geöffnet. Wie auf einem kleinen Markt können sich die Menschen dann, gegen einen symbolischen Beitrag von einem Euro, nehmen, wofür Rente, Hartz IV oder Bafög nicht reichen. Es sind Sozialhilfeempfänger, Aufstocker, Studenten, neuerdings viele Flüchtlinge und in den letzten Jahren vermehrt Rentner. »Wir können nur eine Unterstützung bieten« erklärt Werth, »keine Versorgung«. Man wolle armen Menschen, die sonst ihr gesamtes Einkommen für Essen ausgeben müssten, ermöglichen, auch mal zehn Euro für einen Kinobesuch zur Seite zu legen. Manchmal reiche das Geld der Menschen auch für Lebensmittel nicht mehr aus, wenn andere Kosten dazukämen, Arzneimittel bei einer Erkältung beispielsweise. Die Nahrungsmittel kommen von Supermärkten, reichen die Spenden nicht aus, liefert die Tafel nach.

Berliner Staatssekretärin Sabine Toepfer-Kataw lobt das Projekt. »Es ist gleichzeitig eine Initiative gegen die Verschwendung von Lebensmitteln«. In einer Gesellschaft, in der so viel weggeschmissen werde, sei es großartig, wenn Plattformen entstünden, die die überflüssigen Lebensmittel dorthin brächten, wo sie gebraucht würden.

Nicht immer aber klappt in der Realität die Zusammenarbeit mit den Supermärkten. Viele fahren ihre Unterstützung zurück. »Manche Supermärkte verstehen uns auch als kostengünstige Müllabfuhr und geben verdorbene Lebensmittel oder sogar Abfall.«, so Sittler. Andere aber stellten sehr liebevoll Spenden zur Verfügung.

Laib und Seele: das ist für die weit über tausend ehrenamtlichen Helfer nicht nur ein kreativer Slogan. Die Ausgabestellen in den Gemeinden wollen für die Menschen auch einen Treffpunkt, eine Anlaufstelle bei Problemen bieten. Neben Lebensmitteln gibt es vielerorts Büchertische und Gesprächsangebote. »Anfangs ist es für die Menschen schwierig«, sagt Sittler. Es gebe immer eine Schamgrenze zu überwinden. In vielen Gemeinden sehe man jedoch, dass viele Menschen extra früher zu den Ausgabestellen kämen, dort gemeinsam Kaffee trinken, singen oder spielen.

Müller gratuliert den Initiatorinnen. Sie hätten mit der Aktion eindrucksvoll gezeigt, wozu eine engagierte Stadtgesellschaft fähig sei. Von einem Armutszeugnis für die Politik oder einem Versagen des Sozialstaats will er nicht hören. »Die sozialen Sicherungssysteme garantierten eine ausreichende Versorgung«. Initiativen wie Laib und Seele seien ein Zusatz, der es Menschen erlaube, Geld auch mal für etwas anderes auszugeben. Und Thierse meint: »Bedürftige wird es immer geben, auch in einem perfekten Sozialstaat«.

Dass Hilfsangebote wie Laib und Seele Politiker aus der Pflicht nehmen, glaubt auch Sittler nicht. »Eher im Gegenteil«, meint sie. Durch solche Projekte mache man Armut erst sichtbar. »Wir bringen das Problem in die Kirchen, die ja auch zum Großteil ein sehr bürgerlicher Raum sind.« Dort kämen die Menschen mit Bedürftigen in Kontakt, müssten mit anpacken. »Das ist keine Ausgrenzung oder Stigmatisierung, sondern Integration.«

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