Berlins neue Radikale
Die Neugründung »Radikale Linke Berlin« reagiert auf Verfassungsschutzveröffentlichung mit Offenem Brief
Die linksradikale Szene in Berlin befindet sich im Umbruch. Mit Argwohn beobachtet der Berliner Verfassungsschutz die Veränderungen der letzten Monate. Kurz vor dem Jahreswechsel preschte die Behörde mit einer Presseveröffentlichung vor. Auf der Gedenkdemo für den von Neonazis ermordeten Silvio Meier im November meinen die Verfassungsschützer eine neue Gefahr erspäht zu haben. Ein Transparent, unterschrieben mit »Radikale Linke Berlin« (RLB). Als am Zweiten Weihnachtsfeiertag gleichnamige Präsenzen im Internet und in Sozialen Netzwerken online gingen, waren die Verfassungsschützer überzeugt, man habe es mit »Alten Bekannten in neuem Gewand« zu tun. Was die ehemaligen Mitglieder von ALB und ARAB, die sich angeblich in der neuen Gruppe zusammengefunden haben, gemeinsam hätten, sei ihre Militanz, hieß es.
Im September des vergangenen Jahres frohlockte es im Blätterwald, die Berliner Antifa sei am Ende. Auslöser war eine Erklärung, die die »Antifaschistische Linke Berlin (ALB)« im Internet veröffentlich hatte. Man habe sich aufgelöst, gab die Gruppe bekannt, die über Jahre das öffentliche Bild Antifaschistischer Aktion maßgeblich mitprägte. Wenig später folgte die medial ebenfalls präsente »Antifaschistische Revolutionäre Aktion (ARAB)« mit einer ähnlichen Erklärung.
Die Reaktion des neuen VS-Beobachtungsobjekts RLB fällt indes auf den ersten Blick wenig militant aus. Am Mittwoch veröffentlichte die RLB auf ihrer Internetpräsenz einen Offenen Brief, in dem sie sich zu den Thesen des Verfassungsschutzes äußert. »Wir wollten einige Fehleinschätzungen zurecht rücken und das hervorheben, was uns als neue Gruppe wichtig ist. Da wir noch nicht über die gleiche mediale Deutungshoheit wie der Verfassungsschutz verfügen, schien uns die Form des offenen Briefes als schöne Möglichkeit, um auf die plumpe Stimmungsmache zu reagieren«, erläutert ein Mitglied der Gruppe dem »nd«.
Nach einem ironischen Dank für die »medienwirksame Vorstellung«, geht es ans Eingemachte. »Nein, es ist nicht die Militanz, die uns eint, uns eint die einfache Erkenntnis, dass die Verhältnisse, so wie sie sind, nicht gut sind. Dass es so wie es ist, schlecht ist und dass es so wie es ist, abgeschafft gehört.«, erklärt die RLB in dem Brief programmatisch. »Wir sind Menschen mit politischer Praxis aus verschiedenen Strömungen, von ML bis autonomer Kleingruppe, von Antifa bis Anarchismus und wir haben uns zusammen getan, weil uns eine Idee eint, an der wir festhalten: Eine andere Welt ist möglich«, heißt es in der ebenfalls einsehbaren Selbstdarstellung der RLB weiter. Eine neue berlinweit aktive Gruppe, über Spektrengrenzen hinweg und mit der dazugehörigen breiten Themenpalette, das löst bei den Berliner Sicherheitsbehörden offenbar Unbehagen aus. Weder »autonome Kleingruppe« noch »vordergründig gemäßigt auftretende, überregional agierende Organisationen«, scheint die RLB nicht so recht in den zusammengezimmerten Analyserahmen zu passen. Die letztgenannten, in Berlin vor allem die Gruppen der »Interventionistischen Linken (IL)«, stehen seit längerem im Fokus des Verfassungsschutzes. Sie würden ihre zivilgesellschaftlichen Bündnispartner, gemeint sind etwa Parteien, Gewerkschaften und migrantische Organisationen, in breiten Anti-Nazi Mobilisierungen für ihre linksextremen Ziele instrumentalisieren, warnt der Verfassungsschutz. Eine Warnung, die eher wie ein hilfloser Erklärungsversuch wirkt und nebenbei zivilgesellschaftlich Engagierte zu unmündigen Instrumenten degradiert.
Belege bleibt der Geheimdienst wie auch bei der Behauptung über die Militanz der RLB schuldig. Die Informationsgrundlage für die Einschätzung dürfte bei einer Gruppe, die erst seit wenigen Wochen existiert, ohnehin recht dünn sein. Dass sich die Behörde trotzdem soweit aus dem Fenster lehnt, überrascht umso mehr, weil sie über Jahre in ihren veröffentlichten Berichten militante Aktionen der linken Szene als »No Name-Militanz« konspirativ agierenden, losen Kleingruppen ohne festen Namen zugeschrieben hatte.
Die RLB mobilisiert unterdessen unbeeindruckt für Sonntag zur traditionellen Luxemburg-Liebknecht Demo von Friedrichshain nach Lichtenberg. »Wenn uns das zu Gegner_innen dieser Gesellschaftsordnung macht - nun gut, dann soll es so sein«, schließt ihr Schreiben.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.