Die Richtigen und die »Falschen«
Wie 1945 Millionen von Flüchtlingen integriert wurden
Die umfangreichste Migrationsbewegung im Europa des 20. Jahrhunderts fand 1945 bis 1949/50 statt. Aus Konzentrationslagern befreite Häftlinge, darunter Juden, die den Holocaust überlebten, Zwangsarbeiter aus fast allen Staaten Europas, die nach der Aufgabe ihrer faschistischen Bewacher die Arbeitslager verlassen konnten, sogenannte »displaced persons« aller Art bevölkerten die Straßen des Kontinents. Die meisten Migranten aber waren »übersiedelnde« Deutsche.
Die Anzahl derjenigen Deutschen, die im ersten Jahrfünft nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Heimat verlassen mussten, wird auf 10 bis 15 Millionen geschätzt. Sie hatten mehrheitlich in den östlichen Teilen des »Deutschen Reiches«, östlich von Oder und Neiße, gewohnt. Gemäß dem Potsdamer Abkommen vom August 1945 waren sie »gerecht« auf die einzelnen Besatzungszonen zu verteilen, die aus Polen kommenden Deutschen überwiegend auf die sowjetische und britische Zone.
Nach der notdürftigen Versorgung mit Wohnraum und einem dank Wiederherstellung der Wirtschaft im Ergebnis von Währungsunion im Westen und Zweijahrplan im Osten zunehmenden Angebot an Arbeitsplätzen verbesserte sich die ursprünglich katastrophale Lage der »Übersiedelten« einige Jahre nach Kriegsende in materieller Hinsicht sichtlich. Ein anderer entscheidender Schritt zur Integration in die Gesellschaft war jedoch nicht gleich getan: Den Einheimischen mangelte es noch lange an Akzeptanz für die Zugewanderten.
Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als ob die kulturelle Integration in der Migrationsgeschichte Nachkriegsdeutschlands keine besondere Rolle gespielt haben könnte, waren doch die Neuankömmlinge Deutsche wie die Einheimischen. Die Zugezogenen unterschieden sich nicht hinsichtlich Hautfarbe und Physiognomie von der ortsansässigen Bevölkerung. Doch schon wenn die Flüchtlinge zu sprechen begannen, wurde die Unterschiede deutlich. Diese zugewanderten Deutschen verständigten sich in einem den Einheimischen fremden Dialekt. Vielfach gehörten sie auch einer fremden Religionsgemeinschaft an, jedenfalls dann, wenn sie als katholische Oberschlesier im protestantischen Norddeutschland Zuflucht fanden oder als evangelische Ostpreußen im katholischen Nordrhein-Westfalen. Beide Religionsgemeinschaften huldigten dem gleichen Christengott gemäß deutlich unterscheidbaren Regeln und Ritualen. Vielfach galten die Flüchtlinge den Einheimischen nicht als die »richtigen« Christen.
Selbst im Alltagsverhalten war bei den Flüchtlingen manches anders. Sie hatten größere Familien mit deutlich mehr Kindern und gingen vielfach anders mit ihnen um. Auch der Status des Familienvaters war ein anderer und wurde von den Einheimischen als zu autoritär kritisiert. Als geradezu provozierend empfanden die Einheimischen, dass die Ankömmlinge nicht daran dachten, sich in ihrem Verhalten zu »normalisieren«, das heißt sich den gesellschaftlichen Umgangsstandards ihrer Ankunftsregion anzupassen.
Verwunderlich war das jedoch nicht. Die Flüchtlinge, die ihre Heimat verlassen mussten, hatten alles verloren. Ihre Sitten und Gebräuche waren das einzige, was sie aus ihrer alten Heimat hatten herüberretten können. Die Einheimischen entwickelten jedoch für die Situation der Flüchtlinge kein Verständnis, nahmen den Neuankömmlingen ihre Haltung übel und redeten schlecht über sie. Ein weit verbreitetes Vorurteil war zum Beispiel, dass die Flüchtlinge die - damals kärgliche, bis 1948 generell rationierte - Nahrungsmittelversorgung belasteten, da es in den großen Familien der Eingereisten zu viele Münder zu stopfen gäbe.
Als völlig aus der Luft gegriffen erwies sich die unter den Einheimischen geläufige Auffassung, dass es im bäuerlichen Osten kaum qualifizierte Arbeiter, geschweige denn Hochschulabsolventen gegeben habe. Dass es in den östlichen Provinzen des »Deutschen Reiches« Großstädte mit bedeutendem Gewerbe und florierendem Handel wie Königsberg, Danzig, Stettin, Breslau und Industriegebiete wie das Oberschlesische gegeben hatte, wurde einfach nicht zur Kenntnis genommen. Generell schätzten die Einheimischen die Flüchtlinge als sozial tiefer stehend ein.
Diese Art Vorurteil bestimmte nicht nur das Verhalten der alteingesessenen Nachbarn gegenüber den Flüchtlingen. Sie wurden vielfach auch von den lokalen Behörden geteilt, prägten das Verhalten der kleinen Angestellten in den Bürgermeistereien und Kreisämtern zu den »Neubürgern«. Die Flüchtlinge spürten bzw. erfuhren diese ablehnende Haltung der ortsansässigen Bevölkerung. Das traf sie schmerzlich. »Die Einheimischen betrachten uns als unwillkommene Esser und als Menschen zweiter Klasse«, beklagte sich eine Flüchtlingsfrau 1947 in einer Sendung des ostdeutschen Rundfunks zum Thema Umsiedlerintegration.
Wegen der unfreundlichen Haltung vieler Einheimischer gegenüber den Flüchtlingen waren diese bestrebt, in den ersten Monaten bzw. Jahren nach ihrer Ankunft den unmittelbaren Kontakt zur ortsansässigen Bevölkerung auf das notwendigste Maß zu beschränken - schon um Spannungen mit den Einheimischen zu vermeiden und ihre Ressentiments nicht ständig zu spüren. Die Flüchtlinge verkehrten zumeist untereinander, vielfach in »ihrer« Kirchgemeinde. Sie schufen sich zwecks gegenseitiger Hilfeleistung lockere Zusammenschlüsse zur Überwindung materieller Not und sozialer Isolierung.
Die Besatzungsmächte sahen die auch von ihnen beobachtete Isolierung der Umgesiedelten als ein Problem an. Diese Haltung teilten die nach Kriegsende von den Alliierten schrittweise zugelassenen politischen Parteien. Die Kommunisten wie auch die Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberaldemokraten in der sowjetischen wie auch in der britischen und US-amerikanischen Besatzungszone schrieben sich »schnelle Hilfe besonders für Umsiedler, Heimkehrer und Ausgebombte« in ihre Grundsatzdokumente. In diesem Sinne, nämlich als Chance, damit »bäuerliche Umsiedler wieder eine Existenzmöglichkeiten finden«, stimmte in der sowjetischen Besatzungszone zum Beispiel auch die SPD der von der KPD initiierten Bodenreform zu.
So waren die Absichten. Doch konnten sie realisiert werden? Nachdrücklich und flächendeckend wurden Integrationsbemühungen offensichtlich nur in der sowjetischen Besatzungszone von der im April 1946 durch den Zusammenschluss von Sozialdemokraten und Kommunisten zustande gekommenen SED betrieben. In der Parteiführung wusste man, dass die örtlichen Verwaltungen - deren Spitzenpersonal zwar ausgetauscht war, das sich in der Regel aber weiterhin aus der einheimischen Mittelschicht rekrutierte - dazu tendierten, über die großen Probleme der ansässigen Bevölkerung die außerordentlichen Probleme der Flüchtlinge nicht genügend zu beachten.
Die SED-Führung in den fünf Ländern der SBZ war deshalb bestrebt, die Flüchtlinge, die in der Ostzone offiziell als »Umsiedler«, in Sachsen und Thüringen auch als »Neubürger« bezeichnet wurden, dadurch zu unterstützen, dass sie ihre Parteiorganisationen vor Ort verpflichtete, sich für die Belange der Umsiedler einzusetzen und notfalls Druck auf die örtlichen Behörden auszuüben, wenn diese sich partout weigerten, etwas gegen Unverständnis und herablassendes Verhalten der Amtspersonen und die auch daraus resultierende Selbstisolierung der Flüchtlinge zu unternehmen.
Die Eingliederung der Neubürger in die jeweiligen politischen Systeme von DDR und Bundesrepublik war noch vergleichsweise rasch vollzogen. Parallel dazu - allerdings langsamer - schritt die soziale Integration über die wirtschaftliche Einbindung der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt voran. Deren immer vollständigere Einbeziehung in den Arbeitsprozess war, darin sind sich die Migrationsforscher einig, die entscheidende Voraussetzung und das wichtigstes Merkmal der sich seit Beginn der 1950er Jahre in Deutschland vollziehende sozialen Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen.
Im Bereich der Lebenskultur erwies sich diese Integration als schwieriger und zog sich über einen deutlich längeren Zeitraum hin. Im Unterschied zur sozialen Integration kann die kulturelle nicht anhand einiger eindeutig quantifizierbarer Parameter gemessen werden. Mit einiger Sicherheit kann jedoch gesagt werden, dass sich die lebenskulturelle Integration in der DDR bis Anfang und in der Bundesrepublik bis Mitte der 1960er Jahre vollzog.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.