Spaziergänge

Das kann weg: Leo Fischer über das Austerben des sonntäglichen Spaziergangs und das Erwachen des »politischen« Spaziergangs

Ich bin nicht religiös, aber wenn es etwas gibt, was ich mit einem gewissen heiligen Ernst verfolge, dann ist es der Sonntagsspaziergang. Zweckfrei, unsportlich, willkürlich in Ziel und Länge hat er zu sein; dennoch gilt es, zahlreiche rituelle Formen zu beachten - der Gruß an Fremde, die erste Rast, die zweite Rast, die Wirtshauseinkehr. Diese Religion wird mir umso teurer, da sie kaum noch Anhänger hat: Es gibt keine Spaziergänger mehr. In den Vereinigten Staaten wird es schon als Geste der Hilflosigkeit und Notbedürftigkeit gedeutet, wenn man bei etwas schlechtem Wetter zu Fuß unterwegs ist. In Deutschland, »wo Fitness den Fußball als Nationalsport abgelöst hat« (Tuvia Tenenbom), dienen Wälder und Grünanlagen allein den sadomasochistischen Körperspielen von in hautenge Fetischkleidung gestopften Funktionsmenschen, die die wenigen Spaziergänger hauptsächlich als Verkehrshindernis wahrnehmen.

Und das, was sich politisch neuerdings »Spaziergang« nennt, ist auch nicht der Rede wert. Lange Zeit hegte ich den Verdacht, die Umtaufe von Kundgebungen und Demonstrationen in »Spaziergänge« sei juristischen Spitzfindigkeiten geschuldet - evtl., so mein Räsonnement, müssten derart titulierte Aufmärsche nicht der Polizei gemeldet werden, hätten weniger strenge Auflagen zu befürchten etc. Doch Veranstaltungs- und Politprofis belehrten mich eines Besseren: Nein, die Polizei nehme jede Zusammenrottung von Menschen mit demselben Misstrauen zur Kenntnis, gleich, welch blumige Titel sich die Demonstranten geben. Der einzige Grund für den Namen »Spaziergänge« sei, dass man die negativen, vor allem linken Assoziationen mit den Wörtern »Demo«, »Mahnwache« usf. vermeiden wolle. Sehr gut, dafür hat jetzt »Spaziergang« nur noch negative Assoziationen: Ich denke jetzt an gröhlenden White Trash, der seine Borniertheit notfalls noch mit Gewalt durchsetzen möchte.

In Frankfurt am Main etwa will Pegida die für ihren »Spaziergang« gewählte Route von der Polizei durchknüppeln lassen, wohl mit Spazierstöcken oder Wanderstiefeln, da ihr die Gegenbewegung, ebenfalls wie wild durch die Stadt spazierend, in den Spazierweg hineinspaziert. Dabei kam es beim letzten Mal zu unschönen Spazierentgleisungen; unter anderem spazierten diverse Gegenstände in Gesichter von Pegidisten und Gegendemonstranten, die Verantwortlichen spazierten daraufhin zunächst einmal in den Knast, nur um wenig später als freie Männer bzw. Frauen wieder hinauszuspazieren.

Ich hingegen mache neuerdings nur mehr Ausflüge, keine Spaziergänge. Da ist man nämlich ungestört.

Lesen Sie mehr von dem Autoren: http://www.leogfischer.com/

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -