Babylotsen im Einsatz für den Kinderschutz
Charité und Vivantes bieten frühstmögliche Beratung
Das Bild, das Michael Tsokos mit dem Beamer an die Wand wirft, ist schwer zu ertragen. Es zeigt einen misshandelten Säugling. Tsokos, Leiter der Rechtsmedizin und Gewaltschutzambulanz an der Charité, erklärt detailreich, was mit ihm passiert ist. Tsokos ist am Freitag ins Vivantes Klinikum in Neukölln gekommen, weil der Bezirk zusammen mit Vivantes ein neues Kinderschutzprojekt gestartet hat, das es bereits seit zwei Jahren an der Charité gibt. Das Bild gucken nur wenige der Anwesenden länger an als nötig. Muss das sein? Tsokos findet: Es muss. »Es geht nicht um eine Ohrfeige, sondern um Fälle von Kindesmisshandlung mit massiven Spätfolgen«, sagt Tsokos. Im Jahr 2013 wurden bundesweit knapp 6000 Fälle von Kindesmisshandlung polizeilich angezeigt, davon 520 Fälle in Berlin (21 Fälle mehr als im Vorjahr). Bundesweit starben 153 Kinder an den Folgen ihrer Misshandlung. »Wichtig ist, nicht nur reaktiv tätig zu werden, sondern frühzeitig Signale zu erkennen und Hilfe anzubieten«, sagt Tsokos.
Genau hier setzt das Projekt »Babylotse plus« an, das es seit Juni 2012 an den beiden Standorten der Charité in Mitte und in Wedding gibt. Es handelt sich um ein frühzeitiges Beratungsangebot, das sich an werdende und junge Mütter richtet. Fälle von schwerem Kindesmissbrauch zu verhindern ist dabei nur ein Aspekt der Arbeit, eigentlich vermitteln die Lotsen Hilfsangebote für Familien, die neben dem neugeborenen Kind noch kranke Angehörige pflegen, selbst gesundheitlich belastet sind, in finanziellen Schwierigkeiten stecken oder schlichtweg mit der Situation überfordert sind. Die zwei Lotsen, die die Charité eingestellt hat, verweisen dann in Hilfsprojekte im Klinikum oder in die Bezirke, helfen bei Fragen zu Anträgen, dem Umgang mit Behörden oder bei der Organisation einer Hebammenbetreuung. Jedes Jahr kommen rund 4800 Kinder an den beiden Charitéstandorten in Mitte und am Virchowklinikum zur Welt.
Ziel ist, dass die Hebammen so früh wie möglich Kontakt zu den Müttern aufnehmen, entweder schon vor der Geburt oder direkt danach. »In diesem Zeitraum sind Mütter für Beratungsangebote am empfänglichsten«, sagt Christine Klapp, Oberärztin für Geburtsmedizin an der Charité und Projektleiterin der »Babylotsen«. Mittels eines Risikoscreenings wird anhand eines Fragenkatalogs der Hilfebedarf ermittelt. Unter anderem fragen die Hebammen nach dem Gesundheitszustand der Mutter und der Familie und nach dem sozialen Umfeld und der Partnerschaft. Ab einem Wert höher als drei bieten die Lotsen ihre Hilfe an, die die Mütter nicht annehmen müssen. »Nur knapp ein Prozent hat aber bisher jeglichen Kontakt abgelehnt«, sagt Klapp. Etwa 80 Prozent aller Geburten werden an der Charité mittlerweile mit dem Screeningverfahren erfasst.
Neben der Charité bietet seit Februar auch das Vivantes Klinikum in Neukölln das Babylotsenprogramm an. In Neukölln werde durchschnittlich ein- bis zweimal am Tag Gewalt gegen Kinder gemeldet, sagt Jugendstadtrat Falko Liecke (CDU). »Das ist mir einfach zu viel.« Die Babylotsen sind als Ergänzung zu bereits bestehenden Unterstützungsleistungen wie etwa Familienhebammen gedacht. Die allerdings erst sechs bis acht Wochen nach der Geburt zu den Familien kommen.
In den vier Wochen, die das Projekt in Neukölln läuft, hat Hildegard Rossi, eine der Babylotsen und Mitarbeiterin beim Trägerverein Jugendgesundheitshaus, bereits zu zehn Frauen intensiven Kontakt aufgebaut, sagt sie. »Für die kurze Zeit, die es uns jetzt gibt, hat das Projekt schon viel Zustimmung bekommen«, sagt Rossi. Eine Familie hat bereits ein behindertes Kind und braucht nun dringend Unterstützung. Immer wieder sei auch der Wohnraummangel für Familien ein Thema. Rossi fragt dann bei den Wohnungsbaugesellschaften nach oder vermittelt den Kontakt zu deren Familienberatung. »Netzwerke sind wichtig«, sagt sie. Neben den Babylotsen hat der Bezirk auch eine Smartphone-App entwickelt, die Kurse, Treffpunkte und Beratungsstellen im Bezirk zusammenfasst.
Laut Senatsbildungsverwaltung hat es 2012 von den Jugendämtern 8791 Gefährdungseinschätzungen das Kindeswohl betreffend gegeben. Dabei wurden 1603 Fälle als akut und 2801 Fälle als latent eingestuft. Die meisten Anzeigen gab es in Reinickendorf (1442) und Friedrichshain-Kreuzberg (1203) gefolgt von Neukölln (954). Aber nur in etwa jedem zehnten Fall wurde dann ein Verfahren eröffnet.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.