Plötzlich auf Platte
Die Traglufthalle am Innsbrucker Platz bietet 100 Obdachlosen einen Schlafplatz
In der Küche gelten vier Grundregeln: keine Messer herausgeben, keine Zitronen austeilen, nichts auf die Theke stellen, das in Aluminium gewickelt ist. Mit Messern könnten die Gäste aufeinander losgehen, Zitronen und Aluminium nutzen, um Heroin zu nehmen. Drogen und Alkohol sind hier, in der Traglufthalle am Innsbrucker Platz in Berlin, nicht erlaubt. In der Notunterkunft für obdachlose Männer sollen die Gäste nur schlafen und essen.
Von außen sieht die riesige, hell erleuchtete Halle wie ein liegendes Michelin-Männchen aus, dick, weiß, mit mehreren Luftkammern. Innen ist sie mit Rollrasen ausgelegt, am Zeltdach sorgen Halogenleuchten für grelles Licht. Links ist zwischen den zwei Schlafbereichen eine Raucherecke eingerichtet, rechts sind die Sanitäranlagen, eine improvisierte Küche mit Biertischen. Im März 2014 wurde die Halle zum ersten Mal auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs am Innsbrucker Platz aufgestellt, Trägerin ist die Berliner Stadtmission.
Batya Benner hilft bereits seit drei Jahren in Obdachlosenunterkünften aus, seit März auch hier in der Notunterkunft III, wie die Halle offiziell heißt. Im Dezember wurde sie Teamleiterin. Sie arbeitet fast jeden Tag hier und hat dafür ihr Studium der Sozialen Arbeit an der Alice-Salomon-Hochschule ruhen lassen. Batya ist erst 22 Jahre alt. Lange gezögert, ein Urlaubssemester einzulegen, hat sie nicht. »Wann bekommt man die Chance, mit Anfang 20 bereits eine Leitungsfunktion zu übernehmen?«
Wer hier übernachten will, muss sich ab 19 Uhr eine Wartemarke abholen und dann wieder losziehen. Erst ab 21 Uhr ist Einlass. Bis dahin räumen die ehrenamtlichen Mitarbeiter die Schlafbereiche auf, der Kältebus bringt frische Bettwäsche und Suppe, außerdem Essen von der Berliner Tafel. Heute sind Pfannkuchen mit Pudding dabei und Weihnachtsstollen. Obdachlose, die vor der Halle auf den Einlass warten, helfen, die Kisten zu schleppen. Ein Bäcker aus der Nachbarschaft bringt einen Sack voll Brötchen für das Frühstück.
Die ersten Männer kommen ins Zelt und bekommen Suppe und Tee. Ein Mann fragt, ob das Essen halal sei. Wilma, eine der Freiwilligen, hebt die Deckel beider Metallschalen an, in denen das Essen angeliefert wurde, und schüttelt bedauernd den Kopf. Neben Gemüse schwimmt hauptsächlich Fleisch in der Suppe. Von welchem Tier es stammt, weiß sie nicht. Auch ein Veganer bekommt heute keine warme Mahlzeit. Stattdessen isst er belegte Brötchen, die vom Frühstück übriggeblieben sind. Die Käsescheiben legt er zurück auf den Teller.
Zwei jüngere Gäste hängen ihre Pullover und Socken auf, die vom Regen nass geworden sind. Frische Wäsche bekommen die Männer nicht - außer, sie kommen mit Läusen hier an. Wenigstens frische Unterwäsche würden die Mitarbeiter gerne ausgeben. »Aber wir haben nicht 100 neue Unterhosen pro Tag«, sagt Wilma. Die abgelegte Unterwäsche aus den Kleiderkammern reicht nicht. »Wer kommt schon auf die Idee, Unterhosen zu spenden?« Auch werden die Kleider von Gästen nicht gewaschen. »Dafür haben wir keine Kapazitäten«, sagt Batya. Von den zwei Waschmaschinen funktioniert nur noch eine.
Bernd stützt sich links auf eine Krücke, mit der rechten Hand trägt er seinen Teller. Bis vor einem Jahr war er noch in Lörrach im Südwesten Baden-Württembergs. Frau verloren, Job verloren, Wohnung verloren. Die Frau kippte plötzlich um, als sie gerade auf einer Bank Geld holte. Eine Woche Koma, dann starb sie. »Und ich habe wieder mit dem Trinken angefangen.« Bernd wollte nur noch weg - eigentlich nach Karlsruhe, löste dann aber ein Ticket nach Berlin. »Auf einmal bin ich am Zoo auf Platte gestanden.« Heute gehört Bernd zu den etwa 50 Prozent Stammgästen der Traglufthalle.
Ein Mann sitzt alleine an einem Tisch, weit weg von den anderen. Seit acht Jahren sei er in Berlin, sagt er, seitdem versuche er, einen Operationstermin zu bekommen. Vier Finger seien kaputt, sagt er und zeigt auf seine rechte Hand. »Kein Selbstverschulden«, sagt er. Ein Arbeitsunfall? Er antwortet nur mit einem unbestimmten »Hm hm«. Was er denn vorher gemacht habe, bevor er nach Berlin gekommen sei, hatte er einen Job? »Türsteher.« Und dabei sei er in eine Schlägerei geraten? »Nein, das war ein GSG-9-Einsatz.« Was die GSG-9 denn gemacht habe? »Na, die macht ja alles mögliche: Suppe ausgeben zum Beispiel.« Hm. Hat die GSG-9 irgendetwas mit seiner kaputten Hand zu tun? »Nein, das habe ich doch gar nicht gesagt!«
Psychische Probleme sind nicht ungewöhnlich unter den Gästen, erklären die Mitarbeiter. Viele seien Dauertrinker, und vor allem Jüngere nehmen die Designer-Droge Crystal Meth. Die meisten haben Geschichten zu erzählen: wie ihre Frau sie hinausgeworfen hat, dass sie seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihren Kindern haben. Viele hätten gerne eine Arbeit, finden aber keine. Ein steigender Anteil der Gäste von Notunterkünften in Berlin kommt aus Osteuropa. »Wenn die Saisonarbeit vorbei ist, landen sie häufig auf der Straße«, sagt Wilma. Dann warten sie auf den nächsten Job.
Gegen 23:30 Uhr wird das Licht gelöscht, die meisten Männer sind mittlerweile im Bett. Um Mitternacht ist Schichtwechsel, die Nachtschicht übernimmt. Ab 6:30 Uhr werden die ersten Gäste wieder geweckt, um 8 Uhr müssen alle raus. Sind die Temperaturen unter dem Gefrierpunkt, kommen die meisten Männer abends wieder und hoffen, eine der Wartemarken zu ergattern.
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