Separatisten rücken in Debalzewo ein
Weiter große Sorgen wegen brüchiger Waffenruhe / Kiew und Rebellen werfen sich gegenseitig Bruch vor / Kämpfe um Debalzewo / Grüne: Ukraine droht eine humanitäre Krise
Update 13.20 Uhr: Der schwierige Friedensprozess im ostukrainischen Kriegsgebiet ist nach neuen Gewaltexzessen ins Stocken geraten. Nach tagelangem Stellungskrieg rückten die Separatisten nach eigenen Angaben weiter in den strategisch wichtigen Ort Debalzewo ein. »Der Vormarsch verläuft sehr aktiv«, sagte ein Sprecher der Aufständischen am Dienstag. Die Führung in Kiew sprach von heftigen Straßenkämpfen in dem Verkehrsknotenpunkt. In Debalzewo sollen Tausende Angehörige von Regierungstruppen eingekesselt sein.
Die Gefechte gelten als massiver Verstoß gegen ein erst vor wenigen Tagen in Minsk geschlossenes Friedensabkommen. Demnach sollten die Konfliktparteien eigentlich ihre schweren Waffen aus dem Donbass abziehen. »Es gibt vonseiten der Aufständischen keine wirkliche Waffenruhe, deshalb sind die Voraussetzungen (für einen Abzug) nicht gegeben«, sagte Militärsprecher Andrej Lyssenko in Kiew. Die Armee sei weiter bereit zur Bildung einer Pufferzone. »Unsere Stellungen werden aber wiederholt unter Feuer genommen«, beklagte er.
In Donezk warf dagegen Separatistensprecher Eduard Bassurin den Regierungseinheiten vor, besonders bei Debalzewo die Waffenruhe nicht zu befolgen. »Wir mussten das Feuer erwidern«, meinte Bassurin.
Im Ringen um eine politische Lösung des Konflikts vereinbarte Kanzlerin Angela Merkel bei einem Telefonat mit den Präsidenten Russlands und der Ukraine, Wladimir Putin und Petro Poroschenko, »konkrete Schritte«, um eine Beobachtung der Lage in Debalzewo durch die OSZE zu ermöglichen. Das teilte Regierungssprecher Steffen Seibert mit. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) soll die Einhaltung der Waffenruhe überwachen. Einzelheiten waren auch auf Nachfrage zunächst nicht zu erfahren.
Beginnt doch noch der Abzug schwerer Waffen?
Berlin. In der Ukraine steht die Umsetzung des Minsker Abkommens auf der Kippe. Die prorussischen Kämpfer und Vertreter Kiews hatten sich am Montag gegenseitig für den Bruch der Waffenruhe verantwortlich gemacht. Ein ranghoher Vertreter der ukrainischen Regierung sagte AFP nach dem Verstreichen der Frist, bislang seien noch keine schweren Waffen abgezogen worden. Indes könne der Abzug noch immer »am Dienstag beginnen, wenn die nötigen Bedingungen dafür getroffen werden«.
Eigentlich gilt seit dem Wochenende eine Feuerpause, allerdings ist vor allem der strategisch wichtige Ort Debalzewo weiter umkämpft. Das ukrainische Verteidigungsministerium sprach von 38 Angriffen durch Rebellen am Montag. Ein OSZE-Team, das die Einhaltung der Waffenruhe überwachen soll, konnte wegen der anhaltenden Gewalt nicht nach Debalzewo vordringen. Die Aufständischen erklärten, der Ort sei nicht von der Vereinbarung von Minsk erfasst.
Ukraines Präsident Petro Poroschenko, Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Frankreichs Staatschef François Hollande telefonierten erneut wegen der Krise. Sie zeigten sich während ihres Telefonats am späten Montagnachmittag »besorgt« über die anhaltende Gewalt, wie die französische Präsidentschaft mitteilte. Sie forderten ebenfalls einen »freien Zugang« für die OSZE-Beobachter, um die Einhaltung der Waffenruhe zu überprüfen.
Die USA haben sich besorgt angesichts der brüchigen Waffenruhe gezeigt und ein sofortiges Ende der Kämpfe gefordert. »Russland und die Separatisten, die es unterstützt« müssten sämtliche Angriffe umgehend einstellen, erklärte die US-Außenamtssprecherin Jen Psaki. Das US-Außenministerium forderte die Konfliktparteien auf, mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa zu kooperieren.
Nach Angaben des Vorstands der Heinrich-Böll-Stiftung, Ralf Fücks, droht in der Ukraine eine humanitäre Krise von bislang unterschätztem Ausmaß: In manchen Gemeinden gebe es inzwischen so viele Flüchtlinge wie Einwohner, sagte Fücks nach einer mehrtägigen Reise in die Konfliktregion der Nachrichtenagentur AFP. »Die Lage ist in vielen Orten dramatisch«, die ohnehin überforderten und unterfinanzierten Gemeinden könnten die Herausforderungen aus eigener Kraft nicht bewältigen. Es brauche deshalb dringend »massive finanzielle, technische und medizinische Hilfe aus der EU«.
Der Vorstand der Grünen-nahen Stiftung war in der vergangenen Woche mehrere Tage in der Krisenregion unterwegs, führte unter anderem Gespräche mit dem Gouverneur der Region Lugansk, Gennadi Moskal, mit Vertretern der regionalen Behörden und Soldaten der ukrainischen Armee. »Insgesamt ergibt sich das Bild einer sehr gebeutelten Region«, sagte Fücks. Straßen, Häuser und Geschäfte seien zerstört, in manchen Ortschaften seien jede Nacht 300 bis 800 Geschosse eingeschlagen. »Manche Dörfer sind zu drei Vierteln zerstört, die Menschen hausen in Kellern und müssen mit allem versorgt werden.«
Im Bezirk Belodowsk lebten inzwischen neben 24.000 Einwohnern auch 20.000 Flüchtlinge, sagte Fücks. Das örtliche Krankenhaus müsse mit »vormoderner Ausstattung« doppelt so viele Patienten behandeln. Es fehle an Geld, um Gebäude für die Unterbringung von Flüchtlingen instand zu setzen. Auch in der Stadt Charkiw mit 1,5 Millionen Einwohnern drängten sich nach offiziellen Angaben mehr als 130.000 Flüchtlinge, tatsächlich seien es vermutlich noch mehr.
An eine Beruhigung der Lage nach dem in Minsk erzielten Übereinkommen habe kaum einer seiner Gesprächspartner geglaubt, sagte Fücks weiter. »Dass man mit den Separatisten und ihrem Paten Putin auf einen gemeinsamen Nenner kommen kann, glaubt dort kaum jemand.« Aber auch der Regierung in Kiew werde misstraut. Diese müsse dringend die »Finanzausstattung, Entscheidungskompetenzen und Handlungsspielräume vor Ort« erweitern, um die Kluft zu überwinden.
Von Russland aus würden über die Grenze immer modernere Waffensysteme in das Konfliktgebiet gebracht, erklärte Fücks. Von der 840 Kilometer langen Grenze würden derzeit nur rund 300 Kilometer von der ukrainischen Regierung kontrolliert. Der große Rest sei »offen wie ein Scheunentor« für den ständigen Nachschub von Waffen und Kämpfern. Nach Aussage von Offiziellen und ukrainischen Soldaten stammten inzwischen nur noch zehn bis 15 Prozent der prorussischen Rebellen aus der Region, berichtete Fücks weiter. Die anderen seien entweder russische Söldner oder reguläre russische Armeeeinheiten. Agenturen/nd
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