Kriege weichen Impfpflicht auf
Schutzimpfungen gegen Masern waren im früheren Jugoslawien gesetzlich vorgeschrieben
Belgrad. Erkrankte Asylbewerber aus Bosnien-Herzegowina und Serbien sollen den Ausbruch der Masernepidemie in Berlin ausgelöst haben. Doch die Impfpflicht, die nun in Deutschland diskutiert wird, ist in den Nachfolgestaaten des früheren Jugoslawien schon lange Realität. Ohne den Nachweis der gesetzlich vorgeschriebenen Impfungen gegen Kinderkrankheiten wie beispielsweise Keuchhusten, Röteln, Masern oder Mumps können Eltern ihre Zöglinge in der Regel weder in staatlichen Kindergärten noch Schulen anmelden.
Erziehungsberechtigten, die gegen die Impfpflicht verstoßen, drohen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina saftige Geldstrafen. Kroatiens Verfassungsgericht verwarf kürzlich eine Klage des Verbands Leben oder Impfung gegen die gesetzliche Impfpflicht. Der Verband hatte deren geforderte Abschaffung mit Beispielen gesundheitsschädigender Nebenwirkungen und der beklagten »Diskriminierung« nicht geimpfter Kinder im staatlichen Schulsystem begründet. Die Richter kamen aber zu dem Schluss, dass das Recht des Kindes auf Gesundheit höher als das Recht der Eltern auf eine freie Entscheidung einzustufen sei: Die Impfpflicht sei eine »medizinische Frage« - und keine Gewissens- oder Glaubensfrage.
Wegen der Impfpflicht ist der Immunisierungsgrad in der Region relativ hoch. Einst gefürchtete Krankheiten wie Diphterie und Kinderlähmung gelten praktisch als ausgerottet. In Serbien liegt der Immunisierungsgrad bei Impfungen gegen Kinderkrankheiten bei über 92, in Kroatien bei 95 Prozent. Selbst in Kosovo und Bosnien-Herzegowina, wo 2014 dennoch Tausende Personen an Masern erkrankt sind, liegt der Immunisierungsgrad bei über 90 Prozent.
Doch vor allem in Bosnien-Herzegowina und Kosovo haben die Kriege der 90er Jahre nachträglich kaum mehr zu deckende Breschen in den Impfschutz geschlagen. Bei der bosnischen Masernepidemie 2014 gehörten die meisten Erkrankten den Altersgruppen der 15- bis 19-Jährigen und der 20- bis 29-Jährigen aus der Kriegs- und Nachkriegsgeneration an. Die in Deutschland erkrankten Asylbewerber stammten aus Regionen, in denen während des Kriegs »adäquates Impfen kaum möglich war«, sagt der serbische Epidemiologe Dragan Ilic. In Serbien seien in den letzten Monaten 140 bestätigte und 220 vermutete Fälle von Masern aufgetreten: »In 90 Prozent der Fälle waren die Erkrankten nicht oder nicht ausreichend geimpft.«
Es ist jedoch auch der schlechte Zustand des Gesundheitswesens, der Eltern an den verwendeten Impfstoffen zweifeln lässt. Obwohl die meisten Impfstoffe auch in Serbien produziert werden, erwerben viele Eltern in Apotheken lieber teurere Impfstoffe aus dem Ausland. Bosniens Gesundheitsbehörden beziehen aus Kostengründen ihre Impfstoffe von verschiedenen Produzenten. Wenn die Erst- und die Auffrischungsimpfung mit Impfstoffen unterschiedlicher Anbieter erfolge, erhöhe sich das Risiko unerwünschter Nebenwirkungen, warnt die Ärztekammer in Sarajevo.
Nicht nur wegen der Kriegsfolgen kann auch die Impfpflicht in der Region keinen totalen Schutz garantieren. Manche Eltern schicken ihre Kinder viel zu spät zur Auffrischungsimpfung. Elternzweifel am Sinn der Impfungen werden auch auf dem Balkan von Internetforen und Medienberichten über drohende Nebenwirkungen genährt. Zu ernsthaften Komplikationen sei es in Serbien noch nicht gekommen, beteuert Epidemiologie Ilic. Doch die Angst der Eltern vor angeblich drohenden Autismus bei der Impfung gegen Masern, Röteln und Mumps trage oft »autistische« Züge.
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