Impfpflicht versus Freiheit

Robert Misik über Impfgegner, die ihre Mitmenschen gefährden, und die Frage, ob man sie zu Impfungen zwingen darf

  • Robert Misik
  • Lesedauer: 4 Min.

Infektionskrankheiten wie Masern, die eigentlich schon völlig ausgerottet sein könnten, breiten sich wieder aus - und fordern erste Todesopfer. Gründe dafür sind unter anderem nachlassende Impfdisziplin oder sogar radikale Widerstände gegen Impfungen. Die Motive der Impfgegner sind mannigfaltig: Manche halten Impfkampagnen nur für Profitbringer der Pharmaindustrie, andere einfach für unnötig, dritte wiederum denken wohl ähnlich wie skurrile Verschwörungstheoretiker, dass uns Staat und Industrie etwas antun wollen, wie etwa die Spinner, die an Chemtrails glauben oder daran, dass der Staat per Bestrahlung unser Bewusstsein steuert (wogegen man sich nur durch das Tragen von Aluhüten schützen kann).

Nun ist es eine relativ harmlose Verrücktheit, wenn Leute mit Aluhüten herumlaufen. Verglichen damit ist es deutlich weniger harmlos, wenn Menschen ihren Kindern die Schutzimpfung verweigern. Und zwar erstens für diese Kinder selbst und zweitens auch für alle anderen, die aus irgendwelchen Gründen keinen Impfschutz haben und deren Infektionsgefahr dadurch erhöht wird. Deswegen wird nun über Impfpflicht oder Impfzwang nachgedacht.

Dafür spricht, dass es für den Einzelnen und die Gesellschaft gesund ist, wenn eine Bevölkerung flächendeckend gegen gefährliche Krankheiten durchgeimpft ist. Dagegen spricht allerdings, dass ein Impfzwang in die Freiheit Einzelner eingreift. Mögen die Impfgegner auch durchgeknallt sein - es ist nun einmal nicht verboten, den verrücktesten Verschwörungstheorien anzuhängen und daraus auch Entscheidungen für die persönliche Lebensgestaltung abzuleiten. Im Gegenteil: Wenn die Gesellschaft sich herausnimmt, bestimmte Verhaltenweisen als irre zu klassifizieren und denen, die sie haben, gegen ihren Willen Lebensentscheidungen aufzuzwingen, dann kann das der Einstieg in eine gefährliche schiefe Ebene sein. Das mit den autoritären Vorschriften fängt ja bekanntlich harmlos an - aber wo endet das dann?

Eingriffe in die persönliche Freiheit sind daher eine heikle Sache. Freilich ist die Sache noch einmal komplizierter: Die Impfgegner sind ja nicht nur eine Gefahr für sich, sondern auch eine Gefahr für ihre Umgebung. Vor allem aber: In der Realität treffen Impfgegner ja nicht Lebensentscheidungen für sich, sondern für ihre Kinder, die diese noch nicht selbst treffen können. Hat der Staat in einem solchen Fall höhere Rechte, mit Regeln und Zwang einzugreifen?

Ja und nein. Nein, da das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen bis zu einem gewissen Grad das Fremdbestimmungsrecht über unmündige Kinder einschließt - Eltern bestimmen beispielsweise, ob Kinder in eine Religionsgemeinschaft eintreten, beschnitten werden, ob sie auf dem Land oder in der Stadt aufwachsen und viele andere Dinge, die erheblichen Einfluss darauf haben, wer und was das Kind später wird. In Familien wird auf paternalistische Weise von Erwachsenen entschieden, was für ein Individuum »gut« ist, und zwar bis zu einem Grad, der sehr nahe an die Beschädigung von Kindern reichen kann. Wer beispielsweise einer Sekte beitritt und in ein abgelegenes Kloster zieht, kann seine Kinder mitnehmen, ohne dass die Gesellschaft das verhindern wird, sofern nicht auf krasse Weise der Tatbestand der Kindesmisshandlung erfüllt ist.

An dieser Stelle kommen wir zum Ja auf die Frage, ob der Staat hier Rechte hat, Regeln zu setzen und ihre Beachtung zu erzwingen. Ja, er hat sie dann, wenn das Kindeswohl gegen die Eltern durchgesetzt werden muss. Das steht völlig außer Frage. Es gibt Unterrichtspflicht und in manchen Staaten auch eine Schulpflicht. Aber es wird auch generell in das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen eingegriffen, wenn das das Gemeinwohl nahelegt - und in komplexen Massengesellschaften ist hier die Grenze schwer zu ziehen.

Ein Beispiel: Wenn in modernen Massengesellschaften ein solidarisches Gesundheitssystem eingeführt wird, gibt es einen Anreiz, dessen Kosten so niedrig wie möglich zu halten. Deswegen gibt es beispielsweise Gurtpflicht im Straßenverkehr, obwohl diejenigen, die sich nicht anschnallen, niemanden gefährden außer sich selbst. Vor diesem Hintergrund ist eine Impfpflicht für Kleinkinder eher ein minder schwerer Fall des Eingriffs in Persönlichkeitsrechte, da eben nicht Impfgegner zu etwas gezwungen, sondern die Kinder von Impfgegnern geimpft würden, und ungeimpfte Personen nicht nur sich selbst, sondern auch andere gefährden.

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