Experten uneins über Reparationsansprüche
Völkerrechtler Schorkopf: Athens Forderungen sind »wirtschaftlich, politisch und moralisch« erfüllt / Jurist Fischer-Lescano: Position der Bundesregierung »dürftig und anfechtbar«
Berlin. In der Debatte über die Forderung der SYRIZA-geführten Regierung, mögliche Reparationsansprüche wegen der NS-Verbrechen in Griechenland gegenüber Berlin geltend zu machen, hat der Göttinger Völkerrechtler Frank Schorkopf die Athener Positionen als ungerechtfertigt zurückgewiesen. Die Forderung nach Wiedergutmachung für Schäden, die im Zweiten Weltkrieg und durch die Nazi-Besatzung Griechenlands entstanden sind, seien »nicht nur formaljuristisch abzulehnen, sondern auch wirtschaftlich, politisch und moralisch als erfüllt anzusehen«, sagte Schorkopf dem »Spiegel«.
Griechenland hätte nach Auffassung des Juristen »spätestens nach Abschluss des sogenannten Zwei-plus-Vier-Vertrags 1990 Reparationsansprüche anmelden müssen. Das hat die griechische Seite jedenfalls nicht rechtzeitig getan. Dieses Schweigen kann jetzt mit guten Gründen als Billigung, als Verzicht auf Reparationen ausgelegt werden.« Zudem habe die Bundesrepublik »über die vergangenen Jahrzehnte enorme Transferleistungen gegenüber Griechenland erbracht« - zwar nicht als Reparationen, aber im Zuge der europäischen Integration. Es gehe hier um hohe zweistellige Milliardenbeträge. Diese Summe erreiche »ohne Weiteres die Höhe möglicher Reparationszahlungen«.
Die SYRIZA-geführte Regierung hatte in den vergangenen Tagen erneut die seit langem bestehende Forderung nach Reparationen für deutsche Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg aufgebracht. Die Bundesregierung lehnt Reparationszahlungen ab, sie betrachtet die Angelegenheit als rechtlich abschließend geregelt. Auch die Frage der Rückzahlung einer von den deutschen Besatzern 1942 aufgenötigten Zwangsanleihe versucht die Bundesregierung auszusitzen. Schorkopf sagte dazu, »das war kein normaler Vertrag, schon weil er zinslos war. Damit fällt er für mich in den Bereich der Reparationen, das Thema wäre also auch abgeschlossen. Wenn man das anders sieht, dürften die Griechen nur die Rückzahlung des Kredits verlangen, aber keine Zinsen.«
Dies stößt unter Fachleuten aber auch auf Widerspruch. So argumentiert der Bremer Völkerrechtler Andreas Fischer-Lescano, erstens sei »die Reparationsfrage mit Zwei-plus-Vier nicht erledigt und zweitens ist die Zwangsanleihe keine Reparation, sondern ein völkervertraglicher Anspruch, um den es hier geht«. Der 2+4-Vertrag, auf den sich Berlin stets beruft, binde »Griechenland nicht, denn es ist nicht Partei dieses Vertrags. Es ist völkerrechtlich nicht zulässig, einen Vertrag zu Lasten Dritter - in diesem Falle Griechenlands - abzuschließen«, so Fischer-Lescano. »Die Argumentation der Bundesregierung ist juristisch sehr dürftig und anfechtbar.«
Bereits 2003 widersprach auch der Bundesgerichtshof der Auffassung der Bundesregierung, sämtliche Reparationsforderungen seien mit dem 2+4-Vertrag obsolet geworden. Es sei zumindest »nicht ersichtlich«, so die Bundesrichter in einem Verfahren über Entschädigungsforderungen griechischer Kriegsopfer, »woraus sich ein Verzicht dieses Staates auf individuelle Ansprüche zu Lasten seiner Angehörigen ergeben und seine Wirksamkeit herleiten soll«.
Der Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl hat gegenüber dem Deutschlandradio darauf hingewiesen, dass »zwischen den Kriegsschulden im engeren Sinne und den Reparationen im weiteren Sinne« unterschieden werden müsse. Ritschl nannte die Zwangsanleihe einen Teil des »finanziellen Spiegelbilds der Ausplünderung Europas durch Nazi-Deutschland«. Der Zwangskredit von 1942 sei »ein kleiner Splitter, ein kleines Mosaikteilchen eines viel größeren Bildes international von solchen Zwangsanleihen. Und wenn wir die alle aufsummieren, dann wird es richtig teuer, da geht es um sehr, sehr viel Geld«, sagte Ritschl. »Wenn wir damit im Falle Griechenlands anfingen, dann würden natürlich Forderungen von allen Seiten auf uns niederprasseln.«
Der griechische Verteidigungsminister von der nationalistischen ANEL-Partei, Panos Kammenos, erklärte derweil gegenüber »Bild«, alle anderen europäischen Länder seien für die Verbrechen der Nazis entschädigt worden, »nur Griechenland nicht«. Die Forderung nach Reparationen sei »kein Akt gegen Deutschland, sondern eine historische Verpflichtung. Das Gold, das die Nazis aus Athen nach Berlin gebracht haben, war viel Geld wert. Hierfür erwarten wir eine Entschädigung. Genauso wie für die Zwangsanleihe und die Zerstörung an den archäologischen Statuen. Dabei geht es nicht um eine theoretische Diskussion, ob eine Milliarde oder hundert Milliarden, sondern um den ganz konkreten Wert«, so Kammenos.
Zur Bekräftigung ihrer Forderung nach deutschen Reparationszahlungen hatte die griechische Regierung am Freitag nachgelegt. Die Behörden verfügten über ein 400.000 Seiten umfassendes Archiv mit Unterlagen der deutschen Wehrmacht, erklärte das Verteidigungsministerium in Athen am Freitag. Diese Dokumente untermauerten die Forderung nach Reparationszahlungen. »Sie belegen nicht nur eine historische Wahrheit - es sind die Dokumente der Wehrmacht selbst, der Besatzungsmacht«, sagte Verteidigungsstaatssekretär Kostas Isichos. Die aus US-Archiven stammenden Unterlagen umfassten Tagebücher und Berichte von Offizieren an ihre Vorgesetzten - »hauptsächlich geheime Dokumente«, sagte Isichos. Die Akten könnten weitere Aspekte der Besatzungszeit beleuchten, etwa illegale archäologische Ausgrabungen durch Deutsche und Plünderungen. Damit könnten die griechisch-deutschen Beziehungen »gestärkt, nicht vergiftet« werden. »Deutsche Universitäten, Intellektuelle und das deutsche Volk sind eingeladen, gemeinsam mit uns diese historische Wahrheit zu entdecken und eine offene Wunde zu schließen«, sagte der Staatssekretär. nd/Agenturen
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