Volkskammerflimmern
Bundestag erinnert an die freie Wahl des letzten DDR-Parlaments vor 25 Jahren
Es wäre schön, wünschte sich Norbert Lammert zu Beginn der Debatte im Bundestag am Mittwoch, wenn dass Bewusstsein der DDR-Bürger von damals lebendig bliebe, über die eigenen Belange auch selbst entscheiden zu können. Ein frommer Wunsch, der umgehend mit dem Beifall der Volksvertreter bedacht wurde. Der Bundestag gedachte der Wahl zur Volkskammer vor 25 Jahren - ein wenig nostalgisch, wenn die einstigen gewählten Volkskammerabgeordneten beschrieben, wie sie im Wartburg zu den Fraktionssitzungen nach Berlin fuhren. Ein wenig selbstironisch, wenn sie ihre einstige Naivität nach den Maßstäben der parlamentarischen Demokratie beschrieben, die erst erlernt werden musste. Und ein wenig berührt von sich selbst immer noch, wenn Abgeordnete wie Daniela Kolbe von der SPD vom Wunder der Demokratie sprachen, das damals über die gewählten Abgeordneten kam.
Die Volkskammer war vor 25 Jahren angetreten, um sich aufzulösen, wie Maria Michalk, Abgeordnete der CDU aus der sächsischen Oberlausitz unter beifälligem Nicken der Fraktionen in Erinnerung rief. Wie auch andere heutige Abgeordnete, die damals ihre ersten Erfahrungen mit dem Parlamentarismus machten, zeigte sich Frau Michalk in schöner Erzähllaune, die in ihren Beschreibungen vom unbedingten Bekenntnis zeugte, die DDR damals unbedingt hinter sich lassen zu wollen - und zwar alles, was sie gewesen war. Ohne Bett und ohne Schreibtisch, so beschrieb die CDU-Politikerin, hätten die neuen Abgeordneten in den ersten Wochen nach der Wahl nicht nur mit dem Staunen, sondern auch mit praktischen Widrigkeiten fertig werden müssen.
In Erzähllaune zeigte sich, wenig überraschend, auch Gregor Gysi. Der Fraktionschef der LINKEN wiederholte den Satz, den er vor der Volkskammer nach Verabschiedung des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik gesprochen hatte - der einzige, für den er damals wie heute den Beifall auch der CDU erhalten habe: »Das Parlament hat soeben nicht mehr und nicht weniger als den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik zum 3. Oktober 1990 beschlossen.« Bundeskanzler Helmut Kohl habe damals übrigens unbewusst DDR-Mentalität bedient, meinte Gysi, indem er deren Bürgern gesagt habe: Ich mach das jetzt für euch.
Katrin Göring-Eckardt von den Grünen, die dem Ruf der Bürgerrechtlerin unverzüglich durch heftige Kritik an der DDR gerecht wurde, warf Gysi anschließend Selbstgerechtigkeit und mangelnde Ernsthaftigkeit vor. Alles in der DDR sei von mangelnder Demokratie gekennzeichnet gewesen, und dies wegzulassen, »wie Sie das immer tun, Herr Gysi«, fand die Grünen-Politikerin alles andere als angemessen.
Gleichwohl kam Göring-Eckardt auch auf die mangelnde Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen in der Bundesrepublik zu sprechen. Vorschläge, die Wahllokale am Abend länger geöffnet zu halten, sei jedenfalls nicht die Lösung dieses Problems. Für Demokratie und Freiheit müsse man zu kämpfen bereit sein. Und im Falle eines Sieges sei das Gefühl anschließend unbeschreiblich. Die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Gerda Hasselfeldt, fand gleichwohl die salbungsvollsten Worte zur Würdigung des Arbeit des letzten DDR-Parlaments und sprach von einer »politischen Herzkammer« der friedlichen Revolution. Es seien noch längst nicht alle Wunden verheilt, die die DDR-Diktatur geschlagen hat, mahnte Iris Gleicke, Ostbeauftragte der Bundesregierung. Deshalb verbiete es sich auch nach 25 Jahren, zur Tagesordnung überzugehen.
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