Niemandsland
Robert D. Meyer über Gedanken zum griechischen Stinkefinger in der ostdeutschen Provinz
Der Autor dieser Zeilen hat vor einigen Monaten an dieser Stelle seine tiefsitzende Aversion gegen die Nutzung der Regionalbahn im Berliner Stadtverkehr zum Ausdruck gebracht. Mit einigem zeitlichen Abstand kann er bestätigen: Die Feststellung hat nichts an ihrem Wahrheitsgehalt verloren und Schuld daran, dass ich mir diese Erkenntnis schmerzhaft in Erinnerung rief, ist der gemeine Grieche und im speziellen Finanzminister Yanis Varoufakis. Dessen Stinkefinger-Affäre, die seit über einer Woche zur größten Staatsaffäre stilisiert wird, ist die Schlimmste seit Möchtegernkanzler Peer Steinbrück 2013 ebenfalls den schmutzigen Finger erhob und sich damit endgültig alle Chancen beim deutschen Wähler verscherzte.
Letzterer vergisst zwar selbst bei sich jeder bietenden Gelegenheit – insbesondere wenn es um unsere europäischen Freunde geht – seine zweifelhafte Kinderstube, doch sowohl bei Steinbrück als auch bei Varoufakis überdeckte die Debatte um eine simple Geste das, was uns die beiden Herren mitteilen wollten. Im Zuhören und Reflektieren waren die Deutschen nie Weltmeister, insbesondere wenn wir Gelegenheit bekommen, mit Schaum vor dem Mund als beleidigte Lehrmeister an andere Tadel zu verteilen.
Über derartige Zusammenhänge öfters nachzudenken, wäre wichtig, es sei denn, man befindet sich gerade mit Hunderten anderer Menschen zur morgendlichen Rush Hour in einer Regionalbahn, um vom westlichsten Zipfel der Stadt seinen Arbeitsplatz Nähe Ostbahnhof zu erreichen. Mag einen die rollende Sardinenbüchse auch mit höherer Geschwindigkeit und weniger Zeitaufwand zum Ziel befördern, bietet die S-Bahn doch einen entscheidenden Vorteil: Verpasst der Reisende infolge der vorbeirauschenden Gedanken über einen aus dem Zusammenhang gerissenen Stinkefinger seine Haltestelle, rattert die gelb-rote Blechdose höchstens zwei Minuten weiter anstatt erst 25 Minuten später einen einsamen Bahnhof anzusteuern, an dem die Ostdeutschen selbst nach 25 Jahren Wiedervereinigungserfahrung noch im Ansatz nachvollziehen können, wie es einem Land ergeht, das von einem sich als allwissend und für unfehlbar haltenden Freund belehrt wird, welche Maßnahmen zur Realisierung blühender Landschaften nötig seien.
Es sind Orte, an denen sich das Werbeversprechen deines Handyanbieters nach 99,9 Prozent bundesweiter Netzabdeckung als schlechter Werbegag herausstellt, weil die verbliebenen 0,1 Prozent Niemandsland rein zufällig zwischen dem Übergang vom Berliner Speckgürtel zur brandenburgischen Variante des Middle of Nowhere vergessen wurden.
Fernab des großstädtischen Allmachtsrauschens lässt sich wenigstens ungestört den eigenen Gedanken nachgehen. Ein Land, das sich als führende Industrienation in Europa beweihräuchert, aber selbst nicht einmal lückenloses Mobilfunknetz zustande bekommt, müsste ins Grübeln geraten, ob die hochgegriffene Selbsteinschätzung nicht mehr zweifelhaftes über uns aussagt als ein Stinkefinger über Freunde.
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