Antisemitismus ist ein virulentes Problem

Judenfeindliche Übergriffe und Schmähungen werden immer häufiger registriert

  • Paul Liszt
  • Lesedauer: 4 Min.
Angriffe, Bedrohungen und Schmierereien: Zivilgesellschaftliche Stellen zählen deutlich mehr antisemitische Vorfälle als die Polizei in ihrer Statistik.

Es ist helllichter Tag, kurz nach 15 Uhr, als ein 53-jähriger Mann am vergangenen Freitagnachmittag den S-Bahnhof Spindlersfeld in Köpenick betritt. Mehrmals ruft er den verbotenen Nazigruß »Sieg Heil«. Als der Mann von einem 41-jährigen Fahrgast darauf angesprochen wird, antwortet er mit antisemitischen Beleidigungen. Sicherheitsmitarbeiter der Deutschen Bahn können ihn bis zum Eintreffen der Polizei festhalten. Nun ermittelt die für politisch motivierte Straftaten zuständige Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamtes in dem Fall. Erst wenige Tage zuvor hatten Beamte des Staatsschutzes eine Wohnung in Kreuzberg durchsucht. Hintergrund hier war die Veröffentlichung von antisemitischen Abbildungen auf der Internetplattform Facebook.

»Antisemitismus ist weiterhin in unserer Stadt ein Problem, das sich nicht auf einzelne Stadtteile beschränkt«, sagt Clara Herrmann, die für die Grünen im Abgeordnetenhaus sitzt. Sie ist Sprecherin für Strategien gegen Rechtsextremismus ihrer Fraktion. In dieser Eigenschaft hatte sie jüngst eine Anfrage an den Senat gestellt. Nun liegen die Antworten vor. Insgesamt 192 antisemitische Vorfälle hat die Polizei im Jahr 2014 in Berlin registriert. Überwiegend werden die Taten rechtsextremen Tätern zugeordnet, 15 Fälle entfielen laut Innenverwaltung auf den Bereich der so genannten Politisch Motivierten Ausländerkriminalität. Regelmäßig etwa gehen Briefe, E-Mails und Telefonanrufe mit bedrohenden und volksverhetzenden Inhalten bei jüdischen Organisationen ein. Immer wieder werden Fotos und Videos mit antisemitischen Botschaften im Internet hochgeladen.

Mitte September vergangenen Jahres veröffentlichte beispielsweise die Jugendorganisation der rechtsextremen NPD in einem sozialen Netzwerk ein Foto, das ihre Anhänger auf den Stelen des Holocaustmahnmals sitzend zeigt. »Gemütlicher als der Alexanderplatz ist der Sonnenuntergang auf dem bröckelnden Beton«, lautet die dazugehörige Schmähung. Wenige Tage später ritzten unbekannte Täter in Charlottenburg ein Hakenkreuz in die Motorhaube eines Autos. Der Fahrzeughalter ist jüdischen Glaubens. Im Oktober wurde der Eingangsbereich eines Mehrfamilienhauses in Wilmersdorf mit einem antisemitischen Schriftzug beschmiert. Zum Tatzeitpunkt hielt sich dort der Leiter einer Stiftung auf, die sich für die Ausbildung von Rabbinern in Deutschland engagiert. Vielfach bekommt die Öffentlichkeit von solchen Vorfällen nichts mit. Nur zu sieben der 192 Fälle, darunter keiner der genannten, gab die Polizei eine Pressemeldung heraus. Lediglich ein Drittel der registrierten antisemitischen Straftaten im vergangenen Jahr konnten aufgeklärt werden. Diese Zahl liegt deutlich unterhalb der Aufklärungsquote für den Bereich der Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) insgesamt.

Unstimmigkeiten gibt es indes, was die Zählweise von antisemitischen Vorfällen angeht. Kritik an der offiziellen Zählung kommt vor allem aus der Wissenschaft und Zivilgesellschaft. »Die PMK liefert strukturell konservative Einschätzungen, Werte also, die das Ausmaß von Antisemitismus tendenziell verkleinern«, kritisierte der Soziologe Peter Ullrich von der TU Berlin in einer Anfang des Jahres veröffentlichten Studie des »Zentrums für Antisemitismusforschung« die amtliche Statistik.

Kritische Stimmen kommen insbesondere auch von den Betroffenen antisemitischer Gewalt. »Die offiziellen Zahlen bilden die Bedrohungslage für Juden nicht ab. Viele Juden fühlen sich angesichts immer häufigerer Übergriffe und antisemitischer Anfeindungen auf Straßen, Schulhöfen oder Sportplätzen zunehmend unsicher. Hinzu kommt Hasspropaganda auf Facebook, Twitter und in Leserkommentaren«, sagt Deidre Berger, Direktorin der Berliner Dependance des »American Jewish Committe (AJC)«.

Einen Beitrag dazu leisten, die augenscheinliche Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung von Betroffenen und den öffentlich verkündeten Zahlen aufzulösen, möchte die neu gegründete »Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS)«. Die beim »Verein für Demokratische Kultur (VdK)« angesiedelte, landesfinanzierte Stelle hat für 2014 eigene Zahlen erhoben. Die Zahlen der RIAS unterscheiden sich teils erheblich von denen der Polizei. So wurden 70 antisemitische Vorfälle registriert, die in der PMK-Statistik nicht auftauchen. Dies lässt sich nur teilweise damit begründen, dass in der alternativen Statistik auch Fälle aufgenommen werden, die nicht in den strafbaren Bereich fallen. Denn auch 15 zusätzliche Fälle von Gewalt und Gewaltandrohungen sind hier registriert worden. Mit Sorge beobachteten die Experten vom VdK die zunehmende öffentliche Verbreitung antisemitischer Verschwörungsideologien und offen judenfeindlicher Positionierungen auf Demonstrationen in Berlin. Auf 17 von RIAS im Sommer 2014 begleiteten Demos im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg stellte diese antisemitische Äußerungen fest. Es kam aus den genannten Demonstrationen heraus auch zu gewalttätigen Angriffen unter anderem auf ein jüdisches Ehepaar.

Teils offen antisemitische Äußerungen wurden auch bei den 2014 montäglich stattfindenden »Mahnwachen für den Frieden« registriert. Die Bewegung, die sich vor dem Hintergrund des Konfliktes in der Ukraine gegründet hatte, feiert unterdessen in diesen Tagen ihr einjähriges Bestehen in Berlin. Nach nd-Informationen soll bei der Veranstaltung in einem alten Industriekomplex am Bahnhof Südkreuz neben anderen auch die umstrittene Band »Die Bandbreite« auftreten.

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