Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Schweigepflicht!

  • Roberto de Lapuente
  • Lesedauer: 3 Min.

Aktivismus ist der Lebensinhalt der Mediokratie. Kaum geschieht etwas, wovon profilierungssüchtige, aber ansonsten idealbefreite Hinterbänkler glauben Aufmerksamkeitsprofit abzwacken zu können, werden sie aktionistisch. Sie entfachen damit oft sinnlose oder sogar gefährliche Diskussionen.

Gibt es Zwischenfälle, so müssen natürlich Konsequenzen gefordert werden. So ist das in einer postdemokratischen Landschaft, in der Politik in erster Linie bedeutet, sich medial hübsch in Szene zu rücken. Deswegen Konsequenzen. Weil es ja einen Anspruch darauf gibt, dass »etwas geschieht« - und man verlangt sie überdies, weil das die großartige Chance auf »15 minutes of fame« für manch abgehalfterten Parteisoldaten aus den hinteren Bänken darstellt. Und was dieses Schielen auf Aufmerksamkeit an Absurdität und Sprengstoff birgt, kann man im aktuellen Fall wieder mal beobachten.

Nachdem die Chronologie des Absturzes der Germanwings-Maschine bekannt wurde, und der »Beileidstourismus« der Medienanstalten abgeklungen war, schlug die Stunde derer, die nur konsequent sein wollten. Politiker traten auf, die die ärztliche Schweigepflicht für »sensible Berufe« lockern möchten. Denn nur so könnte man einer solchen Katastrophe vorbeugen. In einem solchen Augenblick sieht man natürlich wie ein Macher aus. Einer, der sich nicht abfindet mit dem Status Quo, der dafür steht, dass es Wiederholungen dieser Machart nicht mehr gibt. Mit solchen Forderungen nach Konsequenzen wähnt man sich als Sieger. Aktionismus ist in einem System, in dem die Quoten über politische Karrieren entscheiden, eine geradezu existenzielle Angelegenheit. Wer phlegmatisch ist, gilt schnell als Schlafmütze und als einer, der kein Interesse an der allgemeinen Sicherheit hat.

Die Forderung nach Einschränkung der ärztlichen Schweigepflicht in manchen Berufsgruppen ist auf drei Ebenen grotesk. Zunächst auf medizinischer oder pragmatischer Ebene. Dann noch auf der Rechercheebene. Und nicht zuletzt vom bürgerrechtlichen Blickwinkel betrachtet. Wer jetzt meint, dass eine Ärzteschaft, die Depressionen an die große Glocke hängen muss, noch lange depressive Patienten behandeln wird, der zeigt nur, wie wenig Stringenz in seiner Denkleistung steckt. Denn ein Pilot, der weiß, dass eine Depression den Verlust seines Arbeitsplatzes bedeuten könnte, der wird sich keinem Arzt mehr öffnen. Verhindert man so Katastrophen oder macht man sie faktisch noch wahrscheinlicher?

Überhaupt ist die Debatte schlecht recherchiert und die Konsequenz-Politiker, die sich jetzt im allgemeinen Interesse sonnen, beweisen nur, dass sie laut schreien, wo sie leise nachlesen sollten. Ein gewisses Maß an Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht gibt es schon. Sie ist an sich absolut. Aber Seuchen zum Beispiel müssen den Gesundheitsämtern gemeldet werden. Und auch, wenn ein Patient andere konkret in Gefahr bringt, kann ein Arzt seine Schweigepflicht brechen. Abstrakte Gefahren reichen hierzu aber nicht aus. Wenn aber beispielsweise ein alkoholkranker LKW-Fahrer seinem Arzt erklärt, dass er auch alkoholisiert seinem Job nachgeht, dann darf der Arzt seine Verschwiegenheit aufkündigen. Man nennt das einen »rechtfertigenden Notstand« und das Strafgesetzbuch hält ihn nur für »zulässig, wenn [sich] eine Güterabwägung ergibt, [sodass] der Bruch des Geheimnisses angemessen und geeignet ist«.

Und zu guter Letzt widerspricht es jeder rechtsstaatlichen Auffassung, wenn man bestimmten Berufsgruppen plötzlich die informelle Selbstbestimmung entziehen möchte. Datenschutz ist in den letzten Jahren durchaus als Bürgerrecht begriffen worden. Nicht vom Staat und seinen Diensten. Aber die Bürger haben ihn so verstanden. Wer Piloten oder andere Berufsgruppen zu gläsernen Patienten machen will, entzieht ihnen durchaus ein Bürgerrecht.

Diese Debatten, die Zwischenfälle manchmal mit sich bringen und von Hinterbänklern angefacht werden, sind hin und wieder nur dämlich. Das sind die glücklichen Momente in dieser Republik. Die schlimmen Augenblicke sind die, da etwas passiert und man wieder mal an die Substanz des allgemeinen Rechtsempfindens geht. Deshalb brauchen wir nicht weniger, wir brauchen mehr Schweigeverpflichtungen – zuallererst für Politiker, die sich mit unreflektierten Quark in den Vordergrund drängen wollen.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

Mehr aus: Der Heppenheimer Hiob