Herdprämie: Selbst die Verfassungsrichter haben Zweifel
Hamburg klagt vor Bundesverfassungsgericht gegen umstrittene Prämie / Ex-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger hält Gesetz für verfassungswidrig
Update 15.10 Uhr: Die Bundesregierung hat das 2013 eingeführte Betreuungsgeld vor dem Bundesverfassungsgericht gegen eine Klage des Stadtstaates Hamburg verteidigt. Die Regelung verstoße weder gegen die Gesetzeskompetenz der Länder noch beeinträchtige das Betreuungsgeld von 150 Euro die freie Rollenverteilung von Eltern bei der Kinderbetreuung, sagte der Rechtsvertreter der Bundesregierung, Michael Sachs, am Dienstag in Karlsruhe.
Wie »Spiegel Online« meldet, haben die Verfassungsrichter in der Verhandlung jedoch »massive Zweifel an der Rechtmäßigkeit des umstrittenen Gesetzes geäußert.« Sie machten mit teils scharf formulierten Fragen deutlich, dass sie offenbar Zweifel an der Rechtsauffassung der Bundesregierung haben. So sprach die Berichterstatterin des Senats, Richterin Gabriele Britz, im Hinblick auf die Vorgaben des Grundgesetzes zur konkurrierenden Gesetzgebung von einer »großzügigen Sicht der Bundesregierung«.
Am Nachmittag prüfte das Gericht dann auch, ob das Betreuungsgeld auch gegen das Gleichheitsgebot und gegen Elternrechte verstößt. Dies ist nach Auffassung Hamburgs der Fall: Wenn der Staat für die Nichtnutzung öffentlich geförderter Betreuungsplätze eine Prämie bezahlt, verstoße er gegen sein Neutralitätsgebot und greife in die Entscheidungsfreiheit der Familien bei der Betreuung ihrer Kinder ein.
Update 12.20 Uhr: Das Betreuungsgeld verhindere die Gleichstellung der Geschlechter und sei deshalb kontraproduktiv, kritisiert die frauenpolitische Sprecherin der LINKEN, Cornelia Möhring. »Aktuelle Zahlen zum Betreuungsgeld zeigen deutlich, dass sich unsere Befürchtungen bewahrheiten: Zuletzt waren 95 Prozent der Beantragenden Frauen. Es ist eine Farce, dabei von Wahlfreiheit zu sprechen«, so die Bundestagsabgeordnete. Gerade für Familien mit geringem Einkommen sei deshalb der Anreiz von 150 Euro groß, kleine Kinder zu Hause zu betreuen. Dies gehe letztlich zu Lasten der Frauen.
Update 11.20 Uhr: Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hat erhebliche Zweifel, ob das Betreuungsgeld verfassungsrechtlich zulässig ist. Die FDP-Politikerin erklärte im Interview mit dem Deutschlandfunk, die Richter in Kalrsruhe müssten klären, ob der Bund für die umstrittene Familienförderung überhaupt zuständig sei. »Hat der Bund eine Kompetenz, wo es hier ja nicht um Fragen der Bedürftigkeit von Familien geht, denn das Betreuungsgeld wird unabhängig von der sozialen Lage der Familien gezahlt?« so , Leutheusser-Schnarrenberger. Unklar sei weiterhin, ob es beim Betreuungsgeld tatsächlich um eine Wahlfreiheit der Eltern gehe. »Dann geht es damit auch um Artikel sechs, Familiengleichbehandlung, aber Freistellung von Familien, wie sie sich verhalten, und da ist die Frage, dass ja hier bei dem Betreuungsgeld für angeblich geförderte öffentliche Einrichtungen ein Ausgleich, wenn man sie nicht nutzt, gezahlt wird.«
Updaten 9.30 Uhr: Die am heftigsten umstrittene Familienleistung der letzten Jahren steht an diesem Dienstag in Karlsruhe auf dem Prüfstand: Das Bundesverfassungsgericht verhandelt (10.00 Uhr) über das umstrittene Betreuungsgeld. Den Richtern liegt eine Klage Hamburgs vor. Das Land hält die Prämie für verfassungswidrig und will sie vollständig kippen. Das noch für 2015 zu erwartende Urteil könnte daher über die Zukunft der Leistung entscheiden. (Az.: 1 BvR 2/13)
Die Prämie wurde im August 2013 nach erbittertem Streit auf Betreiben der CSU eingeführt. Danach bekommen die Eltern 150 Euro monatlich, die ihr Kleinkind nicht in einer Kita oder von einer staatlich geförderten Tagesmutter betreuen lassen.
Die Verhandlung ist für den ganzen Tag angesetzt. Sie gilt als politisch brisant, weil das Bundesfamilienministerium die Prämie verteidigen muss - obwohl Ministerin Manuela Schwesig (SPD) vor ihrer Amtsübernahme eine scharfe Gegnerin des Betreuungsgelds war. Die CSU hat deshalb angekündigt, die Verhandlung »mit Argusaugen« zu beobachten, wie CSU-Chef Horst Seehofer am Montag sagte.
Schuld an Schwesigs Dilemma ist nach Ansicht der Grünen die SPD selbst. »Sie hätte das Betreuungsgeld abschaffen können«, sagte Bundestagsfraktionschefin Katrin Göring-Eckardt der Deutschen Presse-Agentur. »Jetzt muss Frau Schwesig ein Gesetz verteidigen, das sie zurecht selbst nie wollte. Dabei kneift sie und schickt lieber ihren Staatssekretär nach Karlsruhe«, um das Vorhaben zu verteidigen.
Staatssekretär Ralf Kleindiek (SPD) aber war vorher in Hamburg tätig - und hat die Klage des Landes mit ausgearbeitet. Die CSU-Landesgruppe schickt deshalb einen eigenen Beobachter nach Karlsruhe, den Abgeordneten Hans-Peter Uhl, wie Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt in der »Passauer Neuen Presse« (Dienstag) ankündigte.
Hamburg sieht gute Chancen, das ungeliebte Betreuungsgeld zu kippen. Schon die Durchführung der Verhandlung sei als »kleiner Fingerzeig« zu werten, was die Erfolgsaussichten der Klage anbelange, sagte etwa Justizstaatsrat Nikolas Hill am Montag in Hamburg. Das Land sieht den Bund unter anderem gar nicht als zuständig an für die Prämie.
Die Richter wollen die Leistung offenbar von allen Seiten beleuchten. So werden Hamburgs Familiensenator Detlef Scheele (SPD) und Bayerns Familienministerin Emilia Müller (CSU) mit ihren juristischen Vertretern erwartet sowie Verbände wie die Caritas.
Das Betreuungsgeld wird maximal vom 15. Lebensmonat bis zum dritten Geburtstag gezahlt. Die Befürworter sehen darin eine Wahl- und Gestaltungsfreiheit für Eltern bei der Betreuung ihrer Kinder. Kritiker bezeichnen die Leistung dagegen abfällig als »Herdprämie«, die falsche Anreize schaffe und Frauen zu lange vom Arbeitsplatz fernhalte.
Im vierten Quartal 2014 bezogen laut Statistischem Bundesamt deutschlandweit 386 483 Eltern die Sozialleistung - mit steigender Tendenz. Im Bundeshaushalt 2015 sind etwa 900 Millionen Euro für das Betreuungsgeld veranschlagt. dpa/nd
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