Pathos bestimmt die Erinnerung
Für Phillip Becher ist das Gedenken an die Befreiung vom Faschismus auch eine Selbstinszenierung Deutschlands
Der Gedenkkalender in diesem Frühjahr steht im Zeichen des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs. Am kommenden Wochenende begeht Italien mit dem »Anniversario della Liberazione« sogar einen staatlichen Feiertag. Der 25. April verweist dort nicht auf einen Rechtsakt oder das Ende einer militärischen Auseinandersetzung, sondern auf die Ausrufung des Aufstands gegen das Mussolini-Regime und die deutschen Besatzer im Norden des Landes. Anders liegt der Fokus hierzulande. Dies liegt jedoch keineswegs nur an unterschiedlichen Geschichtsabläufen, sondern an bestimmten Geschichtsinterpretationen, die sich auch in der Form des Gedenkens niederschlagen.
Jens-Christian Wagner, der seit vielen Jahren Gedenkfeiern mitorganisiert, hat nun einen bemerkenswerten Vorstoß gewagt. Seines Zeichens Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten will er bei der Gedenkveranstaltung anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des KZ Bergen-Belsen am Sonntag eine Akzentverschiebung wagen. Hierfür wird er sicher vereinzelt Applaus von der falschen Seite ernten. Die von Wagner vorgegebenen Stichworte vom »Kult der Erinnerung« und vom »Betroffenheitskitsch«, mit denen er den bisherigen Usus bei solchen Veranstaltungen kritisiert, könnten auch interessierte Kräfte auf den Plan rufen, die seit jeher vom »Schuldkult« fabulieren. Davon sollte man sich jedoch nicht beirren lassen.
Wagner stach bereits vor Jahren als Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora wohltuend hervor. Nachdem Barack Obama 2009 Buchenwald besuchte, erklärte Wagner in der »Zeit«, dass er es begrüßt hätte, wenn der US-Präsident »deutlich gemacht hätte, dass es im Lager Buchenwald kommunistischen Widerstand gab und dass die Rote Armee so viele Opfer gebracht hat«. Sein aktuelles Ansinnen sollte daher - abseits von nicht immer glücklich gewählten Vokabeln - wohlwollend zur Kenntnis genommen werden, lässt sich mit dessen Hilfe doch eine notwendige Diskussion anstoßen.
Ein Gemeinwesen wie das deutsche stellt sich gerne als beflissener Schüler des Lehrmeisters Geschichte dar. Die im Schwur von Buchenwald enthaltenen Forderungen wurden in Deutschland nach wie vor nicht umgesetzt. Trotzdem nutzt man Gedenktage wie die Befreiungen der Konzentrationslager oder den in der alten Bundesrepublik hauptsächlich als »Tag der Kapitulation« oder der »Niederlage« wahrgenommenen 8. Mai natürlich auch zur Selbstdarstellung und zur Inszenierung des derzeitigen Status quo. In Zeiten, in denen die Erinnerung an den antifaschistischen, vor allem linken Widerstand verblasst, ist es positiv, wenn sich ein Historiker an verantwortlicher Stelle von »hohlen Pathosformeln« distanziert und nicht den Politikern, sondern den Zeitzeugen den ihnen gebührenden Platz einräumen will.
Ein Meister solcher Pathosformeln ist der Vorsteher des genannten Gemeinwesens, Joachim Gauck. An ihm führt als Bundespräsident bei solchen Anlässen wohl leider kein Weg vorbei. Es aber dabei bewenden zu lassen und dem ersten Mann im Staate nicht noch weitere Freiheitsprediger aus der hiesigen Politikerriege zur Seite zu stellen, ist nicht nur eine Wohltat, sondern ein Gebot der Vernunft. Der breite Raum, der den wenigen noch lebenden Opfern in Bergen-Belsen eingeräumt werden soll, kommt daher zur rechten Zeit.
Das staatstragende Element der Gedenken gehört grundsätzlich zurückgedrängt - vor allem in Deutschland. Kein Staat ist weniger berufen, sich selbst gleich mit zu feiern als die Bundesrepublik. Ihr NS-belastetes Gründungspersonal hatte kaum etwas mit denen gemein, die sich den Nazis wenige Jahre zuvor entgegenstellt hatten. Nicht selten haben die bundesdeutschen Funktionäre in Politik und Justiz den Antifaschistinnen und Antifaschisten das Leben schwer gemacht - zum Beispiel durch Berufsverbote für Kommunisten und Kommunistinnen.
Eine Resistenza italienischen Formats hat es in Deutschland nicht gegeben. Dennoch darf man den deutschen Widerstand nicht vertuschen oder umdeuten. Die Befreiung durch die Anti-Hitler-Koalition zeigt, dass Geschichte nicht nur erlitten wird (wobei es an dem Leid, das der Faschismus produziert hat, nichts rumzudeuteln gibt), sondern gemacht werden kann. Sich einer solchen Erkenntnis, die Geschichte als konflikthaften Prozess begreifen hilft, zu erinnern, ist freilich aus Sicht der Herrschenden wenig beliebt.
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