Umfrage: Deutsche wollen legale Einwanderung ermöglichen

Mehrheit kann sich regelmäßige Fährverbindungen nach Europa für afrikanische Asylbewerber vorstellen / Rat für Migration will Abschaffung des Dublin-System / EU-Kommissionspräsident fordert Aufnahmequoten für alle Länder

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Hamburg. Angesichts der jüngsten Flüchtlingskatastrophen auf dem Mittelmeer sprechen sich drei von vier Deutschen dafür aus, für afrikanische Asylbewerber regelmäßige Fährverbindungen nach Europa einzurichten.

Dies ergab eine Forsa-Umfrage im Auftrag der Zeitschrift »stern«. Den Vorschlag, Schlepperboote aufzuspüren und zu zerstören, noch bevor sie Flüchtlinge aufnehmen können, befürworten 70 Prozent. Für die Errichtung von zentralen Auffanglagern in Nordafrika sprechen sich 64 Prozent aus.

Nur eine Minderheit von 12 Prozent kann sich an den europäischen Grenzen eine totale Seeblockade vorstellen, wie sie in Australien praktiziert wird.

Das EU-Parlament debattiert an diesem Mittwoch mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker über die Flüchtlingskrise. Erörtert werden die Ergebnisse des Sondergipfels in Brüssel. Im Mittelpunkt steht der Zehn-Punkte-Plan zur Migration, der mehr Geld für die Seenotrettung und eine bessere Verteilung der Flüchtlinge in der EU vorsieht.

Das Forsa-Institut hatte am 23. und 24. April im Auftrag des »Stern« 1001 repräsentativ ausgesuchte Bundesbürger befragt. 44 Prozent von ihnen meinen, dass Deutschland mehr Flüchtlinge als bisher aufnehmen sollte - unabhängig davon, wie sich andere EU-Staaten verhalten.

Rat für Migration will Abschaffung des Dublin-Systems

Der Rat für Migration hat die Abschaffung des umstrittenen Dublin-Systems zur Verteilung von Flüchtlingen in der Europäischen Union (EU) gefordert. Laut Erkenntnissen der Migrationsforschung sei das Abkommen der Mitgliedsstaaten gescheitert und habe seinen Zweck nie erfüllt, kritisierte Ratsmitglied und Politikwissenschaftler Dietrich Thränhardt am Mittwoch in Berlin. Stattdessen sei ein europäischer Lastenausgleich notwendig.

Auf kurze Sicht forderte der Rat eine Fokussierung auf die Seenotrettung. Allein im Sommer sei mit bis zu 200.000 Flüchtlingen zu rechnen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen würden, sagte Migrationsforscher Vassilis Tsianos. Europa brauche daher ein humanitäres Moratorium, das mit der Logik des Grenzschutzes breche und Fluchthilfe zur Priorität mache. Außerdem müsse die Visumspflicht für Flüchtlinge aus Bürgerkriegsländern aufgehoben werden.

EU-Kommissionspräsident fordert Aufnahmequoten für alle Länder

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat die Reaktion der EU-Regierungen auf die jüngsten Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer als »unzureichend« kritisiert. »Es reicht nicht aus, die Symptome der Krise zu bekämpfen«, unterstrich Juncker während einer Plenardebatte des Europaparlaments am Mittwoch in Straßburg. »Die Mitgliedsstaaten müssen die Entwicklungshilfe aufstocken, das ist absolut nötig«, sagte Juncker. Wichtig sei auch ein Quotensystem für die Aufnahme von Flüchtlingen in ganz Europa. »Wir schlagen am 13. Mai ein System der Neuansiedlung der Flüchtlinge in der gesamten Europäischen Union vor«, kündigte der Kommissionschef an.

Juncker gehörte zu den Hauptrednern einer Parlamentsdiskussion, die sich mit den Ergebnissen des EU-Krisengipfels zur Flüchtlingspolitik am vergangenen Donnerstag beschäftigte. In der Abschlusserklärung dieses Gipfels finden sich nur vage Andeutungen über Möglichkeiten, Flüchtlinge in der EU anders zu verteilen. »Betroffenheitslyrik und -Rhetorik auf Dauer« dürfe es nicht geben, sagte Juncker. »Wir müssen jetzt handeln.« Die EU-Kommission hat allerdings bei Reformen der Flüchtlingspolitik nicht das letzte Wort. Die maßgebliche Entscheidungsmacht liegt bei den europäischen Regierungen.

Juncker zeigte sich zufrieden, dass es künftig mehr Seenotrettung im Mittelmeer geben werde, und bezeichnete das existierende Mandat der EU-Grenzagentur Frontex als ausreichend. Es sei eine Falschinformation, dass unter diesem Mandat nur Rettung in Küstennähe möglich sei, unterstrich er. »Dringend« müsse sich die EU auch mit Fragen der legalen Migration beschäftigen, verlangte er. »Wenn wir nicht, und sei es nur ein bisschen, die Eingangstür öffnen, dann dürfen wir nicht darüber überrascht sein, dass die Unglücklichen dieser Welt die Türen einrennen.«

Während der Rede des Kommissionschefs kam aus den Reihen der Abgeordneten immer wieder Applaus. Den liberalen und linken Flügel des Parlaments überzeugte Juncker, selbst Christdemokrat, allerdings deutlich mehr als die Konservativen. »Sie haben Führungskraft gezeigt«, bescheinigte ihm die Liberale Sophie in't Veld. »Sie haben eine große Rede gehalten«, sagte der sozialdemokratische Fraktionsvorsitzende Gianni Pittella. Skeptischer äußerte sich der christdemokratische Fraktionschef Manfred Weber (CSU): Er bezweifelte unter anderem, dass angesichts der Arbeitslosigkeit in Europa eine Einwanderung in großem Umfang richtig sei.

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) forderte die EU-Regierungen auf, der Volksvertretung in der Debatte um die Flüchtlingskrise mehr Gehör zu schenken. Das Parlament habe seit vielen Jahren Vorschläge für die Lösung der Flüchtlingsprobleme unterbreitet, sagte Schulz. Der Europäische Rat und auch die EU-Kommission müssten diese endlich ernst nehmen, forderte er. Das Europaparlament spricht sich beispielsweise schon seit Jahren für eine europäische Quotenregelung für die Verteilung von Flüchtlingen aus. Agenturen/nd

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