Der andere Maidan
Ein Jahr nach den blutigen Protesten kehrt Kiew mit einem Radrennen zur Normalität zurück
»Das war ein hochemotionaler Moment«, erinnert sich Werner Salmen, Sportdirektor des österreichischen Radteams Vorarlberg, an jenen Tag 2014, an dem er und sein deutscher Kapitän Grischa Janorschke zusammen auf dem berühmten Maidan Nesaleschnosti in Kiew standen. Der Platz war noch von Demonstranten besetzt, die direkt auf Chreschtschatyk, der zentralen Straße der ukrainischen Hauptstadt, in Zelten lebten. Trotz all der Zerstörungen blieb Salmen, der aus Dortmund stand, optimistisch. Er verkündete zuversichtlich: »Nächstes Jahr fahren wir hier Radrennen.«
Daran war damals kaum zu denken, denn der Platz, auf dem ein kleines Stück Weltgeschichte geschrieben wurde, sah schrecklich aus. Am Ende sollte Salmen aber doch Recht behalten. Beim »Horizon Park Race Maidan« am vergangenen Wochenende betreute er erneut Grischa Janorschke, der zudem an diesem Tag noch seinen 28. Geburtstag feierte. Dieses eher kleinere Eintagesrennen ist zwar nicht hochkarätig besetzt, besitzt aber trotzdem eine eigene Geschichte. So gewann auf diesem Kurs unter anderem Olaf Ludwig die erste Etappe der Friedensrundfahrt 1986 - nur zwei Wochen nach der Katastrophe von Tschernobyl.
Das schwierige Rennen mit Start und Ziel direkt auf dem Maidan lag Janorschke, der nicht nur sprintstark ist, sondern auch mit Kopfsteinpflaster ordentlich umgehen kann. Das bewies der 28-Jährige schon 2012, als er bei Paris-Roubaix in der Spitzengruppe fuhr und seinen bisher einschneidendsten Radsportmoment erlebte. Im berühmten Wald von Arenberg fiel Janorschke vom Rad und verursachte dabei auch den Sturz von Jaroslaw Popowytsch. Der größte Star des ukrainischen Radsports hatte 2005 mal die Nachwuchswertung der Tour de France gewonnen.
Popowytsch war 2015 auch auf dem Maidan noch einmal dabei, spielte aber anders als Janorschke keine Rolle. Der Kapitän des Team Vorarlberg wollte dagegen das Rennen gewinnen. »Ich bin zwar kein Ukrainer. Aber wir waren hier letztes Jahr und haben die Menschen auf dem Maidan gesehen. Es ist unglaublich, dass wir heute über den Maidan fahren. Auch für mich ist das ein besonderer Moment.«
Das ist umso verständlicher, bedenkt man, dass das Team Vorarlberg im Hotel »Ukraina« in Kiew übernachtete, von dessen Dach aus im Februar 2014 Scharfschützen in die Richtungen Maidan und Instytutska-Straße geschossen hatten. Mehr als 100 Menschen kamen damals ums Leben. Die Lobby des Hotels diente als Feldhospital, Freiwillige leisteten dort erste Hilfe. Heute ist das »Ukraina« zum normalen Leben zurückgekehrt, die Geschichte aber ist immer noch spürbar, und auf dem Maidan geht es noch immer um Politik. Am Renntag gab es 2015 in der Innenstadt Kiews nicht nur Menschen, die den Radprofis zujubelten, sondern auch ein paar Dutzend Demonstranten. Sie trugen Plakaten mit Losungen wie »Poroschenko und Jazenjuk raus«.
Das Team Vorarlberg rund um seinen deutschen Kapitän hatte andere Sorgen. Janorschke, der im vergangenen Jahr auf einem ähnlichen Kurs in der Nähe des besetzten Platzes unter die ersten Fünf fuhr, war einer der großen Favoriten. Die einheimische Mannschaft Kolss-BDC hatte jedoch Unterstützung von anderen ukrainischen Teams bekommen und verschaffte sich so eine Überzahl am Rennende. »Deswegen hatten wir das Rennen von Anfang an so schwer wie möglich machen wollen und schickten drei Fahrer in die erste Spitzengruppe«, erklärte Sportdirektor Salmen nach dem Rennen die Strategie.
Die zahlte sich zunächst auch aus, denn Janorschke war schließlich in der entscheidenden Gruppe mit dabei, mit ihm jedoch auch drei Fahrer von Kolss-BDC, die am Ende fast pausenlos attackieren konnten. Für Janorschke war das zu viel: Nach einer tollen Mannschaftsleistung und einem hoffnungsvollen Kampf belegte er Platz sechs. Der Ukrainer Oleksandr Poliwoda von Kolss-BDC gewann das Maidan-Rennen.
Mit dem Ergebnis war Janorschke nicht zufrieden, mit der Leistung allerdings schon: »Wir sind als Mannschaft stark gefahren und haben alles richtig gemacht. Am Ende hatte ich einfach keine Chance, weil ich alleine war und alle Angriffe kontern musste.« Diese schwierige Aufgabe konnte er nicht erfüllen. An diesem Tag war ihm aber ohnehin etwas anderes wichtiger. »Es war wirklich schön, so viele fröhliche Menschen auf dem Maidan zu sehen. Wir wissen, dass die Lage in der Ukraine alles andere als einfach ist. Deswegen haben wir uns echt gefreut, dass wir hier fahren konnten«, betonte Janorschke, der es auch in den anderen beiden im Rahmenprogramm ausgetragenen Rennen in Kiew unter die besten 15 schaffte.
Am Sonntagabend hatte die Mannschaft noch einmal die Chance, die Innenstadt von Kiew zu Fuß zu genießen. Die Hauptstadt hat den Weg zur normalen europäischen Metropole wiedergefunden. Wer zum ersten Mal in Kiew ist und die Vorgeschichte nicht kennt, wird kaum glauben können, wie viel Blut in dieser Stadt vergossen wurde. Allein das teilweise ausgebrannte Gewerkschaftshaus, mittlerweile in den Slogan »Ruhm der Ukraine« auf einer Plane eingewickelt, erinnert an die tragischen Ereignisse vor anderthalb Jahren. 2016 will Grischa Janorschke wieder auf den Maidan zurückkehren. Vielleicht hat er dann auch das sportliche Glück an seiner Seite.
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