Ohne Stempel kein Sauerkraut
Michail Prischwin galt manchem als Träumer, aber er war fern jeder Illusion
Ein Pfau, ganz in Brauntönen, ziert den sanft geprägten Buchumschlag. Zwei Pfauen kommen tatsächlich im Buch vor. Als Überbleibsel vergangener Pracht in einem verwüsteten Empireschloss, werden sie von den Bauern, die dort ihre Abgaben entrichten müssen, bespuckt, mit Spülwasser begossen. Dagegen vermag die alte Pfauenwärterin nichts auszurichten, ebenso wie sich die Bauern nicht gegen diejenigen wehren können, die ihnen auch noch das Letzte wegnehmen. Sind es Gutsbesitzer? Nein es ist die neue Macht, die sich als kommunistisch bezeichnet, und wirklich nicht umhin kann, auf dem Lande zu requirieren, weil den Städten die Lebensmittel ausgegangen sind. So hungert bald das ganze Land.
Michail Prischwins Erzählung »Der irdische Kelch« führt ins Jahr 1919 und fußt in weiten Teilen auf eigenem Erleben. Wie Alpatow im Buch hat auch der Autor damals als Lehrer und Kustos eines »Museums des Gutslebens« in einem ehemaligen Herrenhaus bei Smolensk mehr schlecht als recht sein Leben gefristet. Trotz Plünderungen stand das Gebäude immer noch unter Denkmalschutz, aber wie das Schloss im Roman war es »eingesaut und zugedreckt«, nachdem dort zuerst eine Kinderkolonie einzog, dann alle möglichen Leute »mit Mandat«, schließlich die »Kontribution«. Die hungernden Bauern versuchten sich mit List oder mit Schwarzgebranntem aus der Affäre zu ziehen, die Steuereintreiber schreckten selbst vor schlimmster Gewalt nicht zurück.
Michail Prischwin: Das Lexikon »Literaturen der Völker der Sowjetunion« von 1967 vermerkt seine Haft 1897/99 wegen Teilnahme an einem marxistischen Zirkel, sein Landwirtschaftsstudium in Leipzig und seine ausgedehnten Fußwanderungen durch Russland, die ihm den Stoff für seine subtilen Naturbeschreibungen lieferten. Berühmt wurden sein »Kalender der Natur« und seine »Jägergeschichten« aus den 20er Jahren, sein Poem in Prosa »Shen-Shen« (1932) und sein Roman-Märchen »Die Nordwaldlegende« (1954). Die meisten Leser haben diesen Schriftsteller mit poetischen, träumerischen Texten in Verbindung gebracht. Beseelte Lektüre. Da kannte man aber sein Tagebuch und diese Erzählung »Der irdische Kelch« noch nicht, die als Ganzes erst 1979, damals noch mit Zensureingriffen, erschien. Vorliegendes Buch beruht auf einer russischen Ausgabe von 2004.
Eveline Passet bleibt in ihrer Übersetzung ganz nah am Original, man kann das Russische noch hinter dem Deutschen erahnen. Wobei ihre Arbeit nicht einfach war, denn sie hatte es mit einem sprachbesessenen Autor zu tun, der sich mit der Herkunft der Wörter auskannte, aus historischer Tiefe schöpfte. Also hat auch sie Studien betreiben müssen, die sich in ihrem Essay im Anhang des Bandes niedergeschlagen haben. Auf andere Weise ist das Nachwort von Ilma Rakusa hilfreich, was die historischen und biografischen Hintergründe des Textes betrifft, von dem die Autorin sagt, dass er »kantig und bizarr« sei, »mitnichten eine flüssige Lektüre«.
Essayistisch ist die Erzählung, weil Prischwin darin seine bitteren Gedanken über Vergangenheit und Zukunft Russlands unterbringen wollte. Dramatisch ist sie, weil er die verschiedensten Leute zu Wort kommen lässt, in ihrem Widerstreit und in ihrer jeweils eigenen Redeweise. Ein absurd-groteskes Stimmengewirr stellenweise, ins Extrem gesteigert, als dem Lehrer Alpatow in der Stadt ein Begräbnis bereitet werden soll. Denn der arme Mann ist gestorben - manche behaupten auch, er läge nur im Krankenhaus -, als er nachts in der Kälte zwanzig Werst aus der Stadt zu seinem Dorf zurücklaufen musste, am Verhungern, weil man ihm dort als Dorflehrer nicht mal ein halbes Pud Sauerkraut hatte zuteilen wollen. »Ohne Stempel können wir nichts ausgeben«, hieß es, und als er den Stempel hatte, war die Sauerkrautausgabestelle geschlossen.
Als bittere Satire würde man den Text stellenweise lesen, wenn einem hier die schreckliche Realität des Kriegskommunismus nicht so deutlich vor Augen stünde. Ein zerlumpter Mann, ein »Schkrab«, ein Lehrer wie er, aber aus der Stadt, steht mit Alpatow zusammen nach Sauerkraut an und äußert sich bissig zuerst über die Seele, dann über das Christentum. Sie »müssen doch begreifen, dass Hungrige keine Christen sein können, vom Hunger kommt nichts«. Was mit dem Sozialismus sei, fragt Alpatow. »Auch der geht nicht von den Hungrigen aus, wer von denen, die sich den Sozialismus ausgedacht haben, dieser Marx und wie sie heißen, Lasalle, Jaurès, Fourier, wer von denen hat Hunger gelitten?«
Eine gerechte Ordnung, das war der Plan, aber es war nichts zum Verteilen da. Die alten Herren waren davongejagt oder umgebracht, und jeder nahm sich, was er kriegen konnte. Die »Muschiki«, die Bauern, schätzen nur »das Pud Mehl, das gewonnen wurde durch das Verurteiltsein zu einem Dasein, in dem ein Kälbchen sehr vielmehr wert ist als ein Kind … Im verlausten, Seuche und Tod bringenden Zug fährt das Pud durch die ganze Rus und bestimmt alles Dasein, und dieses Dasein ist Seuche und bestialischer Tod.«
Prischwin, schreibt Ilma Rakusa, habe seine Erzählung damals Leo Trozki gesandt, der ihr »großen künstlerischen Wert« attestierte, sie aber unter politischem Aspekt für »ganz und gar konterrevolutionär« hielt. Dabei hatte der Autor einst auch eine Revolution herbeigesehnt, hatte aber bald alle Illusionen verloren. »Dem Großteil des russischen Volkes ist es ganz egal, von wem es regiert wird oder gegen wen es kämpft«, konstatiert er schon zu Beginn seines Buches. »In schweren Augenblicken fragst du dich: Was will ich?, und antwortest: Einen anständigen Tee mit Zucker.«
Michail Prischwin ist 1954 in Moskau gestorben. Für sein Schreiben hat er Kritik aushalten müssen, aber er wurde zunehmend auch für seine Naturliebe und seinen Humanismus gelobt. Zu seinem 70. Geburtstag 1943 bekam er noch den Rotbannerorden.
Von der »Angst, diesen irdischen Kelch bis zum letzten Tropfen leeren zu müssen«, schreibt er diesem Buch aus dem Jahre 1922. Er suchte und fand bekömmlichere Wege. Was seine Erzählung »Der irdische Kelch« ihm später bedeutete, ist nicht überliefert.
Michail Prischwin: Der irdische Kelch. Aus dem Russischen von Eveline Passet. Nachwort von Ilma Rakusa. Guggolz Verlag. 171 S., geb., 20 €.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.