Eine sonderbare Welt

ND im Club - Waltraut Schälike über ihr Leben im Hotel »Lux«

Sie tobten tagsüber durchs große Haus, klopften an alle Türen und riefen: »Haben Sie Briefmarken?« Egal, ob hinter der Tür Pieck oder Togliatti wohnten. Die Kinder, gleich welcher Nationalität, waren alle fleißige Briefmarkensammler. Wenige Jahre später kamen die »Menscheneinsammler« des NKWD. Stets des nachts. Ihr Pochen an den Zimmertüren war lauter, aggressiver, jagte den Bewohnern des Hauses Angst und Schrecken ein. Wer wird diesmal abgeholt? Väter ihrer Freundinnen waren darunter, »sie kehrten nie zurück«, erzählt Waltraud Schälike. Und: »Durch ein Schlüsselloch haben wir einmal einen gesehen, der Selbstmord begangen hat.« Sie ist ein Kind des berühmt-berüchtigten Moskauer Hotel »Lux«, das Mädchen vom Zimmer 188. Seit 1931, seit ihrem viertem Lebensjahr, wohnte sie dort mit ihren Eltern und (später auch) Brüdern, wuchs dort auf und heran. Aus »Trawka« wurd eine selbstbewusste junge Frau, die ihren eigenen Weg ging, nicht selten aneckte und doch zeitlebens geprägt blieb von den Erfahrungen und Erlebnissen in diesem mehrstöckigen Gebäude mit prunkvoller Fassade, in dem Mitarbeiter der Komintern, Kommunisten aus verschiedenen Herren Ländern untergebracht waren. Eine sonderbare Welt, abgeschirmt und ausgeliefert. Am Montagabend stellte Waltraut Schälike im ND ihre Erinnerungen vor. Eigentlich hat sie diese nur für ihre Kinder und Enkelkinder niedergeschrieben. In Russisch. Denn Waltraut Schälike blieb in der UdSSR, als ihre Eltern (und Brüder) nach dem Krieg nach Berlin zurückkehrten. »Ich wollte keine Deutsche sein« ist ihr nun - dank Frank Preiß und dem Karl Dietz Verlag - auf Deutsch vorliegendes Buch getitelt. Der Verlag sieht es auch als ein durch glückliche Fügung erhaltenes Geschenk zu seinem 60. Jubiläum an, wie Leiter Jörn Schütrumpf informierte. Fritz Schälike, der Vater von Waltraut, war 1946 immerhin Gründer des Verlages Das »Lux« war keineswegs ein luxuriöses Hotel. Die Lebensumstände »waren aus heutiger Sicht ziemlich primitiv«, berichtet Waltraut Schälike. Die meisten Zimmer waren so klein, dass man sich kaum bewegen konnte, »weshalb wir Kinder in den langen, halbdunklen Korridoren spielten«. Die Küchen auf jeder Etage wurden von den Bewohnern des Hauses gemeinschaftlich genutzt, die Gasflammen brannten ununterbrochen, aber nie sei Streit ausgebrochen. »Es gab eine stille Abmachung, sich gegenseitig zu helfen.« Der einzige Luxus einiger Bewohner des »Lux« bestand vielleicht darin, dass sie in dem vornehmen, einige Häuser weiter sich (noch heute) befindenden Lebensmittelgeschäft »Jelissejewski« einkaufen konnten, wo es Wurst, Fleisch, Fisch, Käse auch in Hungerszeit gab - »Wunderladen« für Valuta. Hier im »Lux« kann sie 1934 einen Blick auf den »Helden des Reichstagsbrandprozesses« Georgi Dimitroff werfen; Renate Zaisser, die Tochter des späteren ersten Geheimdienstchefs der DDR, hat ihr das streng gehütete Geheimnis von dessen Rückkehr aus Nazi-Haft »streng vertraulich verraten«. Waltraut Schälike drückt die Schulbank mit Swetlana Stalina, Tochter des »Woshd« (Führers), die ihr zunehmend »einsamer und verschlossener« erschien. Und sie verbringt den Sommer im Kaukasus mit den Söhnen von Friedrich Wolf, mit »Mischa« (Markus), dem späteren HVA-Chef, und »Konni« (Konrad), in den sie damals »ein wenig verliebt« war, weil er sie nicht wie die anderen hänselte. Markus Wolf sitzt im Publikum und lauscht seiner für einige Tage aus Moskau nach Deutschland gereisten Jugendgefährtin. Die spricht auch über »Tante Lotte«, die mit Nachnamen damals noch Kühn hieß und eine Freundin der Mutter war. Die Historikerin und langjährige Dozentin in Kirgisien kann und will auch heute nicht schlecht über Frau Ulbricht reden. »Man muss die Menschen in ihrer Zeit verstehen«, sagt Waltraut Schälike. Waltraut Schälike: »Ich wollte keine Deutsche sein«. Karl Dietz, 343 S., geb., 24,90 EUR.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.