»Ich sehe weiter«
Sendereihe auf RTL: »40 Jahre Musikvideo«
Schon der Begriff: Video. Ein altsprachlicher Wortzombie aus dem Totenreich der Medienmoderne wie Transistor, Bildschirm, Floppy Disc. »Ich sehe«, sagte man so im alten Rom. »Ich glotze« wurde daraus im VHS-Zeitalter. »Ich konsumiere«, lautet die heutige Definition dessen, was mit dem Präfix »Musik« angeblich 1975 die Welt ergriff und nie mehr ganz losließ. Damals, behauptet RTL nun im Nachtprogramm, wurde der erste Popsong ohne Konzertsituation verfilmt. Und weil das im Temporausch der Popkultur ziemlich lang her ist, wird »40 Jahre Musikvideo« von keinem Jüngeren als Thomas Gottschalk moderiert. Das passt. Und es passt gleichzeitig nicht.
Denn so antiquiert das Musikvideo in Zeiten des Internets auch erscheint: Seit Freddy Mercurys Gruppe Queen ihren ersten Nummer-Eins-Hit »Bohemian Rhapsody« aus Termingründen nicht wie Mitte der Siebziger üblich bei »Top of the Pops« vortrug, sondern ihn der BBC stattdessen in Form eines kunstvollen Clips schickte, haben Musikclips die zugehörige Industrie samt Hör- und Sehgewohnheiten nicht nur revolutioniert; selbst in Zeiten digitaler Portale von Youtube über Vimeo bis Dailymotion kann von einem Bedeutungsverlust gar keine Rede sein.
Das alte Medium nämlich, es boomt. Schätzungen über die Bestandsentwicklung sind zwar selten seriös. Aber wenn Debütalben selbst ungekannter Independentbands oft drei, vier Videos abwerfen, wenn die Entertainment-Plattform Vevo allein 2013 gut 55 Milliarden Clip-Zugriffe registriert und Psys Netzphänomen »Gangnam Style« grad den zwei Milliardsten Click verbucht hat, kann vom Abebben der Videoflut seit dem lausigen Aus von MTV und VIVA keine Rede sein.
So führt uns das juvenile TV-Fossil Gottschalk ab heute vier Freitage durch ein klingendes Panoptikum, das trotz aller Patina zeitlos zeitgenössisch ist. Dekoriert mit Standardpromis (Joey Kelley, Ingolf Lück, Giovanni Zarrella), die links unten im Flatscreen-Eck wie gewohnt eher weniger als mehr Belangloses übers Gezeigte absondern, gleicht das Format zwar privaten Clipshows wie ein Jauch dem anderen. Doch neben berechenbarer Zielgruppenversorgung gibt es eben auch viel Interessantes zu erfahren. Zum Beispiel, dass Regiestar Lasse Hallström fast zwei Jahrzehnte vor »Gilbert Grape« im eigenen Wohnzimmer Songs seiner Landsleute Abba bebilderte; dass MTV 1981 zunächst ganze 168 Videos im Bestand hatte, zu denen allein Rod Stewart 30 beitrug; dass Musikfernsehen auch sechs Jahre vorm europäischen Senderableger meist »made in Britain« war; dass die Emanzipation Homosexueller ohne die zugehörigen Videos womöglich noch immer ein ferner Traum wäre; dass Tom Schillings Welthit »Major Tom« erst für den US-Markt laufende Bilder erhielt und Bowies Frühwerke eher Galerien als Fernsehsender schmückten. Es gibt also eine Menge zu erfahren über die Relevanz dieses prägenden Kulturguts der analogen Achtziger.
Umso ärgerlicher ist es, wenn sich RTL im Dozenten-Tonfall des altbackenen Rockopas vornehmlich auf Videos beschränkt, die ohnehin jeder schon mal gesehen hat. Weil dem Kommerzkanal der Mainstream heilig ist, gibt es aus dem unermesslichen Fundus artifizieller Musikclips daher wenig zu sehen, dafür umso mehr Depeche Mode, Madonna, Massenware eben. Trotzdem ist »40 Jahre Musikvideo« eine nostalgische, nicht rückständige Zeitreise ins Gemüt einer ganzen Generation. Zuschauer, die mit Peter Illmanns »Formel Eins« aufgewachsen sind und auch im Internet der Dinge noch gut versorgt werden mit etwas, das viel jünger ist, als der lateinische dahinter vermuten lässt: Videos. Mögen sie ewig laufen.
RTL, 23 Uhr
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