Immer im Kreis

Autorentheatertage am Deutschen Theater: Das Staatsschauspiel Dresden zeigt »mein deutsches deutsches Land«

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Thomas Freyer wollte ein finsteres Kapitel deutscher Gegenwartsgeschichte dramatisieren: die Morde des NSU. Doch der Autor und sein Regisseur Tilmann Köhler haben eine eher biedere Collage produziert.

Plötzlich trägt Sarah Springerstiefel. Sarah, von der die kultivierten Eltern besorgt sagen: »Groß ist sie geworden – und fremd«. Die Stiefel sind der äußere Abschied von einer behüteten Kindheit, in der die Eltern ihr die Welt erklärten. Das nervt. Mit diesen schweren Schnürstiefeln aber geht man nicht nur anders, man tritt auch schneller einmal zu. So Sarah gegen den Tisch der ihr mit sanftem pädagogischen Nachdruck zusetzenden Eltern. »Halt’s Maul!« schreit sie den Vater an. Sarah hat jetzt neue Freunde.
Sarah? Ist doch »ein scheiß jüdischer Name«! Das ist das erste, was Florian zu ihr sagt, und damit ist auch schon alles über ihn erzählt, zumindest im Stück von Thomas Freyer mit dem Titel »mein deutsches deutsches Land«. »Fick dich!«, antwortet Sarah – und ist doch sofort dem simpel-brutalen Charme dieses Jungen erlegen, der jedem, der ihm irgendwie quer kommt, das »Hirn aus dem Schädel prügeln« will.

Thomas Freyer hat den Versuch unternommen, ein wahrhaft finsteres Kapitel deutscher Gegenwartsgeschichte, die Morde des NSU, zu dramatisieren – ohne sie nacherzählen zu wollen. 27 Rollen für sechs Schauspieler! Freyer verfremdet die Geschichte, die doch immer noch die der Verquickung von Rechtsradikalismus, Terrorismus und Geheimdiensten geblieben ist. Heribert Prantl schrieb in der »Süddeutschen Zeitung«: »Die NSU-Morde hätten verhindert werden können, wenn der Landesverfassungsschutz das nicht verhindert hätte. Der Verfassungsschutz hat es ermöglicht, dass gesuchte und flüchtige Neonazis im Untergrund bleiben konnten. Er hat die Neonazi-Szene vor Ermittlungen der Polizei gewarnt. Er hat mit dieser Szene in einer Weise gearbeitet, die die Juristen Kollusion nennen: Er hat verdunkelt und verschleiert.«

Damit ist auch die Kernaussage des immerhin dreistündigen Abends auf den Punkt gebracht, die Thomas Freyer in seinem Stück und Tilmann Köhler in seiner Regie nun bebildern. Aber eben diese Art von Bebilderung, so wird schnell klar, wird zum Problem der Inszenierung. Bei Freyer sind es 16 Morde, sämtlich an ausländischen Studenten. Macht das einen Unterschied? Irgendwie hat man den Eindruck, dass so aus einem sinnlos-beliebigen Massenmord mitten unter uns, der uns erschreckt, ein eher zweitklassiger Tatort-Plot wird, den wir tagtäglich gewohnt sind schulterzuckend zu konsumieren.
Die Drehbühne von Karoly Risz kreist unaufhörlich in einem Tempo, dass einem schwindelig wird. Vorn ist da, wo das Sperrholz ist, hinten aber ist schwarzes Gestell, der Underground, in den das mörderische Trio abtaucht. An der Seite der Bühne sitzen immer ein oder zwei Schauspieler, die gerade nichts zu spielen haben und machen mikrofonverstärkt die Geräusche zu dem, was wir sehen, bevorzugt Gläser eingießen und klirren.

Die Handlung hat drei Ebenen, gestern (2008), heute (2014) und morgen (2020). Damit man nicht ganz die Orientierung beim ständigen Szenenwechsel vor und hinter der kreisenden Bühne verliert, laufen auf mehreren Monitoren Szenenanweisungen mit, welche Personen sich hier gerade wo befinden. Ab und zu legt sich einer der Schauspieler vor eine Kamera, dann sehen wir sein Gesicht in Großaufnahme grimassieren. Nun ja, das klingt übertourt avantgardistisch, ist es aber nicht. Denn Autor und Regisseur haben eine eher biedere Collage produziert, deren Ausufern schließlich Langeweile verursacht.
Tilmann Köhler ist ohnehin das Chamäleon unter den jüngeren deutschen Regisseuren. Als Absolvent der Ernst-Busch-Schule frappierte er vor genau zehn Jahren mit ersten Inszenierungen in Weimar, in denen sich radikaler Zugriff aufs Stück mit einem ganz eigenen Formsinn verband, so bei Bruckners »Krankheit der Jugend«, womit er umgehend zum Theatertreffen eingeladen wurde. Dann passierte ihm sofort das, was immer schlecht ist: Er war angesagt. In den Folgejahren versenkte er eine Reihe von Klassikern – von »Hamlet« bis »Woyzeck« – ohne nennenswerte Nachwirkungen, bis er vor zwei Jahren in Dresden Christa Wolfs »Der geteilte Himmel« inszenierte, der dort immer noch läuft und den man unbedingt gesehen haben sollte. Denn hier öffnen sich Erinnerungsräume auf eine Weise, die etwas bedrängend Unbedingtes hat.

In »mein deutsches deutsches Land« (warum eigentlich die Verdopplung von »deutsches« im Titel?) bedrängt nur eines und das auch nur ansatzweise: die Beziehung von Sarah zu Florian. Was zieht sie zueinander, was hält sie beieinander mitten im Morden? Ist es eine fade Bonnie-and-Clyde-Romantik? Oder schlicht seelische Stumpfheit, ein unstillbarer Hass, der sich nur in immer neuer Gewalt entlädt? Köhler lässt uns auch darin im Unklaren.

Lea Ruckpauls Energie ist es vor allem zu verdanken, dass hier nicht ein textaufsagender Kostümträger nach dem anderen zu bedeutungsvoll hämmernden Beats (Musik: Jörg-Martin Wagner) über die Bühne hastet. Für kurze Momente entsteht so im Aufeinanderprall mit Kilian Land als Florian etwas wie Unausrechenbarkeit. Ansonsten Fernsehästhetik mit Ansage.

Der gute Kommissar Wolff (Thomas Braungardt) ist ein Idealist auf verlorenem Posten und bebildert mit seiner Person den Satz: »Irgendwer arbeitet daran, dass wir die Täter nicht finden.« Seine Assistentin (Ina Piontek, die mehr kann, als sie hier zeigen darf) assistiert, wie wir das schon tausendmal gesehen haben. Wolffs Direktionsleiter, der abwechselnd vom Innenminister und dem Verfassungsschutz indoktriniert wird, spielt immer entweder gerade Tennis oder joggt oder sitzt auf dem Hometrainer. Gerät hier alles außer Kontrolle gerade wegen der Geheimdienstkontrolle? Diese Frage hätten Autor und Regisseur ernsthaft beantworten sollen.

Statt absurd oder grotesk zu werden, stellt Köhler reihenweise Karikaturen auf die Bühne. So ertappen wir Verfassungsschützer Dr. Degen in seinem Büro regelmäßig beim Basteln von Modellautos und ähnlichem. Man fragt sich angesichts dieses auf biedermeierliche Weise verschenkten Abends: Warum kein nüchterner Protokollstil, keine »Ermittlung«, die sich auf die doch vorhandenen Dokumente stützt?

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