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Wie Versicherungsgesellschaften im Osten das große Geschäft gemacht haben. Von Jörg Meyer
Es war das Jahr 1991, mein Abitur hatte ich in der Tasche, was nun? Keine Berufsvorstellung, Geld musste her. In den 1980er Jahren hatte ich Prospekte und Zeitungen ausgetragen, hatte in einer Textilaufbereitung gejobbt, tausende Bomberjacken und T-Shirts aus Plastikfolie gerissen, auf eine Stange gehängt und in einen Bügeltunnel geschoben bevor sie in den Handel gingen. Das wollte ich nicht noch einmal machen. Also der Blick in die Stellenanzeigen der Hamburger Tageszeitung, die bei meinen Eltern auf dem Wohnzimmertisch lag. Die Kleinanzeigen der Versicherungsunternehmen waren kaum zu übersehen, Hamburg-Mannheimer, Volksfürsorge, Iduna, Deutscher Ring ... suchten Aushilfen. Einen Job zu bekommen kostete einen Anruf, kaum eine Woche später saß ich am Überseering in der City Nord, 2000 Mark netto. Ich wohnte bei meinen Eltern. Ein Traum.
Der Arbeitsplatz befand sich in einem mit Tischen und Computern vollgestellten Pausenraum. Um mich herum saßen knapp zwei Dutzend weitere Aushilfen, fast alle ungelernt, gerade aus der Schule. Die Tätigkeit bestand darin, Versicherungsanträge zu prüfen. Stimmen die Postleitzahlen, die Adressen, ist alles ausgefüllt? Wir arbeiteten den Sachbearbeitern zu, die in der Arbeitsflut zu ersticken drohten. Jeweils zum Quartalsabschluss stapelten sich in der Etage Waschkörbe, Postkisten und Pakete voller Lebens-, Unfall- oder Haftpflichtversicherungen. Erst später wurde mir klar, was da geschah.
Mit dem Beitritt der DDR zur BRD und der Währungsunion erschlossen sich völlig neue Märkte. Es gab neues Geld, das musste ausgegeben werden. Windige Vertreter brachten oft mit schlechter Beratung und üblen Drückermethoden die Produkte der Finanzdienstleister an den Mann und die Frau. Die Kleinanzeigen in den Zeitungen sprachen von Eins-A-Nebenverdiensten. Wer sich ein bisschen im Verkaufen schulen ließ, wurde alsdann auf den gesamtdeutschen Neubürger losgelassen. Den Erfolgreichen winkten hohe Provisionen. »Rund 50 000 Versicherungsvertreter und Vermögensberater ziehen durch das Land, und täglich werden es mehr. Zwischen Tür und Angel übertölpeln sie die Kundschaft mit scheinbar günstigen Versicherungs- und Bausparverträgen oder vermeintlich lukrativen Kapitalanlagen«, schrieb der »Spiegel« Ende 1990.
Das damalige Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen (BAV), seit 2002 Teil der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin), wurde bald auf die Praktiken der Versicherer im Osten aufmerksam. Zwangsläufig: Hielten die Anfragen und Beschwerden sich 1990 noch in Grenzen - das Amt war in den neuen Bundesländern noch nicht bekannt -, machten sie 1991 rund 75 Prozent der Beschwerden deutschlandweit aus, schrieb das BAV in seinem Jahresbericht 1990 und stellte »erhebliche Missstände im Beitrittsgebiet« fest. Als einen Grund nannte das BAV, dass die Tätigkeit Versicherungsmakler keine geschützte Berufsbezeichnung sei. Im Osten betätigten sich viele »Pseudo-Makler« oder Vermittler, »die weder als zuverlässig noch als geeignet bezeichnet werden konnten«. Die Gesellschaften arbeiteten zudem mit sogenannten Strukturvertrieben zusammen. In diesen hierarchischen Unternehmen kann ein Mitarbeiter Stufe um Stufe aufsteigen und verdient an den Abschlüssen der unteren Stufen mit. Das BAV kritisierte, dass man nicht nur durch eigenen Erfolg weiterkam, sondern den Aufstieg auch erkaufen konnte. Wer oben war, hatte das Recht eigene »Untervertreter« anzuwerben, profitierte von deren Erfolgen. Entsprechend hoch war der Erfolgsdruck.
Erster Schritt für Neuvertreter in spe: Sich selbst, Familie und Freunde versichern. »Nachdem der Interessent sein Umfeld versichert hat, wird er von der Vermittlungsgesellschaft fallengelassen, da er kein weiteres nennenswertes Geschäft mehr bringt.«, schrieb dazu das BAV.
Eine Strategie der Versicherungsunternehmen sei es gewesen, ehemalige Offiziere und Beschäftigte aus der Volkspolizei, der NVA und des Ministeriums für Staatssicherheit anzusprechen, erzählt ein damaliger Insider gegenüber »nd«, der anonym bleiben möchte. Diese seien gut ausgebildet gewesen, bestens vernetzt und hatten die Kontakte und Adressen.
Im Jahr 1991 explodierte die Zahl der Eingaben beim BAV, überwiegend in der Lebens- und Unfallversicherung. Die Beschwerden betrafen 1990 und 1991 meist die Vertragsabschlüsse: Anträge wurden rückdatiert, um die Widerspruchsfrist zu umgehen; den Kunden wurden bei Unterzeichnung noch Kredit- oder Versicherungsanträge untergeschoben; geschönte Testergebnisse von Kapitalanlagen wurden vorgelegt - oder die Unterschrift unter dem Antrag schlicht und ergreifend gefälscht.
Vieles davon war nicht neu. Strukturvertriebe und Drückerkolonnen hatte es auch im Westen schon gegeben. Aber: »Im Westen sind die rüden Methoden beim Kundenfang altbekannt. In vier Jahrzehnten haben die meisten Alt-Bundesbürger den Umgang mit den Drückern gelernt«, schrieb der »Spiegel«. »Es gab diejenigen, die als Goldgräber rübergingen«, sagt der Insider. »Das war manchmal an der Grenze dessen, was man machen sollte«, und »sicherlich kein Ruhmesblatt der Versicherer«.
Und heute? »Die großen Drückerkolonnen sind raus«, sagt Jörg Rackow. Er hat schon 1985 nebenberuflich für die Staatliche Versicherung der DDR gearbeitet, war dann nach deren Übernahme durch die Allianz noch ein Jahr bei dem Konzern tätig und machte sich 1992 in Rostock mit seiner Agentur selbstständig. Gleichzeitig sei er damals in den Berufsverband Deutscher Versicherungskaufleute (BVK) eingetreten. »Das hat eine völlig neue Perspektive gebracht«, sagt Rackow.
Es habe damals diejenigen gegeben, die aus der Not heraus Versicherungen verkauft hätten. Nicht wenigen sei es ums schnelle Geld gegangen. Aber die anderen hätten gesagt: »Diesem Vertriebsdruck unterwerfen wir uns nicht, sondern beraten die Menschen und verkaufen ihnen nur Versicherungen, die sie brauchen und die ihnen helfen.« Neben seiner ehrenamtlichen Tätigkeit beim BVK ist Jörg Rackow im Verein »Ehrbare Versicherungskaufleute« aktiv. Der hat sich zum Ziel gesetzt, das schlechte Image der Branche zu verbessern, und dafür »10 Tugenden« entworfen, die strenge politische Richtlinien beschreiben.
Mit Inkrafttreten der EU-Vermittlerrichtlinie in Deutschland im Jahr 2006 wurde ein Kontrollmechanismus eingeführt. Wer als Versicherungsvermittler sein Geld verdienen will, muss heute einen »Sachkundenachweis« erbringen. Ein guter Leumund muss nachgewiesen werden und gesicherte finanzielle Verhältnisse. Einige Vertriebe versuchten es indes weiter mit Tippgebern und »Analysten«, welche weder eine Ausbildung noch eine berufliche Zulassung besitzen, sagt Rackow. »Hier ist auch der Kunde aufgerufen, diesen Machenschaften ein Ende zu bereiten.« Das schlechte Image stammt nicht erst aus der Nachwendezeit, werde sich aber auch so schnell nicht ändern, bedauert Rackow, Versicherungsvertreter aus Überzeugung. Das merke man auch am fehlenden Nachwuchs in der Branche.
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