Die Bücher in der Banlieue

Saphia Azzedine: «Mein Vater ist Putzfrau» - ein überaus sinnlicher, erfrischender Roman

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 4 Min.

Zwischen den Taschenbüchern und den gebundenen Büchern, den bebilderten und den schlichten Buchdeckeln gab es Milliarden von Wörtern. Manche davon waren gescheitert, andere hatten viele erschüttert. Ich hatte Lust sie auszuprobieren.« Mit Büchern hat sich der 14-jährige Paul infiziert, als er seinem Vater in der Bibliothek bei seinem Putzjob half. Denn der Vater ist »femme de menage« - Putzfrau, im Französischen gibt es kein männliches Pendant dafür.

Bücher und Banlieue - wie passt das zusammen? Paul berauscht sich an Wörtern, geschraubten Wendungen, verschlingt schöne Literatur. Sitzengeblieben ist er in der achten Klasse, weil in seinen Aufsätzen unverdaute Fundstücke wie »heimtückisch plagte er seine Geliebte mit lüsternem Frohsinn« auftauchen, die den Lehrern sauer aufstoßen. Eine frühe Lektion über angemessenen Gebrauch von Sprache.

Der Eintritt in die Welt der Bücher als Akt der Befreiung aus bedrückenden Verhältnissen ist ein vertrautes Thema, mit dem die Literatur sich selbst feiert. Oft variiert, etwa in Ulla Hahns Kindheitsgeschichte »Das verborgene Wort«, erweist es seine Vitalität hier in einem multikulturell aufgeladenen, von sozialen Konflikten erhitzten Großstadtmilieu. Indessen, so stellt man lesend fest, muss die Banlieue ein wunderbarer Ort sein; zumindest liebenswerter, als man gemeinhin dachte. Ein Schmelztiegel ja, aber brodelnd vor Selbstironie, aufregend jung, schäumend vor Lebensfreude. Ein schriller Ort der Gegensätze zwar, jedoch vor allem gesellschaftlicher Rand, wo Menschen das Leben feiern und beweinen oder einfach cool abtun.

All das sind auch Zutaten jenes prickelnden Cocktails, mit dem uns die 1979 in Marokko geborene Schriftstellerin Saphia Azzedine in ihrem zweiten Roman verwöhnt, eine überaus erfrischende, unfassbar sinnliche Mixtur. Das wohl Bemerkenswerteste: Ihre Sprache ist atemberaubend witzig; gespickt mit intelligenten Sprachspielen, scharfen Anzüglichkeiten, feinen Sottisen und kreativem Nonsense. Alles kongenial ins Deutsche übertragen. Wer die leiseste Ahnung von den Vertracktheiten dieser Kärrner-Arbeit hat, wird unbedingt auch die grandiose Leistung wertschätzen, die Birgit Leib mit der Übersetzung abliefert.

Mit dem gewitzten frühreifen Paul, von den Seinen Polo genannt, hat sich Saphia Azzeddine den beredten Protagonisten geschaffen, der ihre Sicht auf das Leben in der Banlieue erzählen kann. Dieses erscheint wenig spektakulär. Paul ist weder arabisch, noch jüdisch, noch schwarz, aber aussichtslos verliebt in Priscilla aus gutem Hause, die er lediglich mit seinen Sprachkunststücken beeindrucken kann.

Seine Mutter liegt nach einem Unfall gelähmt im Bett. Die ältere Schwester, »eine unparteiische Schönheit«, bewirbt sich bei diversen Beauty Contests der Güteklasse »Miss Mirabelle«. Da die Kandidatinnen nicht einfach schön aussehen, sondern auch intelligent rüberkommen sollen, bastelt Paul der Schwester elaborierte Statements wie »Ich liebe die Armen und möchte sie durch Hilfsorganisationen unterstützen, für die ich eine Leidenschaft habe, genauso wie für Schönheitssalons«; die zerplatzen auf dem Laufsteg wie Seifenblasen. Hinreißende Sprachkritik, en passant verabreicht, die den schönen Schein ad absurdum führt und also befreiend wirkt.

Am Ende wird es dramatisch, ja rührselig im besten Wortsinn. Paul droht wegen Mathe durchs Abitur zu fallen. Eine Katastrophe, weniger für ihn als für seinen Vater, der doch so sehr wollte, dass der Sohn den als Putzfrau verbrachten Jahren mit dem Abitur nachträglich einen Sinn verleiht. Nun soll es an schnöder Prozentrechnung scheitern? »1,33 % aller Frauen …« Paul versteht nicht, wie man Leute auf einen Durchschnitt reduzieren kann. Mit einer geliehenen Krebsdiagnose und den entsprechenden Röntgenbildern leiert er seiner Mathelehrerin schließlich die fehlenden sechs Punkte aus ihrem guten Herzen.

Ein furios inszenierter Roman über das Überleben in der Banlieue und die Unverzichtbarkeit von Büchern. Ein Luxus, den man sich im Zeitalter der Kurzmitteilungen leisten sollte. Und damit zur finalen Lektion über die Angemessenheit von Sprache: »Ich habe gelernt, dass ein Mann sich vierhundert Seiten Zeit lassen kann, um einer Frau zu sagen, dass er sie liebt. Vierhundert Seiten vor dem ersten Kuss, dreihundert vor einer Umarmung, zweihundert, um es zu wagen, sie anzusehen, hundert, um es sich einzugestehen. In Zeiten, wo man eine SMS verschickt, wenn man Lust zum Vögeln hat, finde ich das außergewöhnlich, schwindelerregend, verrückt, unfassbar, extravagant, wahnsinnig, grandios …«. Schön zugespitzt mit Attributen, die auch Saphia Azzeddines Vater-Sohn-Geschichte exakt beschreiben.

Saphia Azzedine: Mein Vater ist Putzfrau. Roman. Aus dem Französischen von Birgit Leib. Verlag Klaus Wagenbach. 128 S., br., 14,90 €.

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