Farm der Tiere
Im Kino: »Men & Chicken« von Anders Thomas Jensen
Der Titel klingt erst einmal anzüglich, eben darum, weil man ihn nicht gleich beim Wort nehmen will. Wer sind denn hier die Hühner? Nicht das, was machohafte Sprüche machende Männer vielleicht so nennen, also nicht das Weib mit einem Federvieh verglichen, was ja schon unkorrekt genug wäre. Nein, hier geht es tatsächlich um Hühner, viele sogar, doch wer Regisseur Anders Thomas Jensen kennt, weiß, irgendwo ist da ein Haken. Und den kann man hier, ohne zu viel vorwegzunehmen, auf einen für »Men & Chicken« zentralen Begriff bringen: Mutation!
Jensen ist auf grandiose Weise berüchtigt, wenn es darum geht, Dinge, die nicht zusammenzugehören scheinen, doch zusammenzubringen, wie in seinem Kinoerfolg »Adams Äpfel« einen Pfarrer und einen Nazi. Das emphatische Zusammenbringen schließt dabei Handgreiflichkeiten nicht aus, im Gegenteil!
Erste Szene: Der Vater stirbt. Einer seiner beiden Söhne ist anwesend, der andere fehlt unentschuldigt. Aber der Vater muss Gabriel und Elias, seine ungleichen Söhne, gut gekannt haben, denn er hat ihnen seine letzte Botschaft per Video hinterlassen. Zum Vor- und Zurückspulen. Leider hat die Technik vorzeitig versagt und das, was er noch zu sagen hatte, ist somit Fragment geblieben. Aber so viel ist klar: Er ist nicht ihr leiblicher Vater. Der wohne, fast hundert Jahre alt müsse er inzwischen sein, auf der einsamen dänischen Ostseeinsel Ork. Dort lebten auch noch Brüder von ihnen und die Mutter.
Mads Mikkelsen und David Dencik sind die beiden Brüder, die nun auf eine skurrile Reise gehen, die sie einander näherbringt, aber das durchaus nicht im harmlos befriedenden Sinne verstanden, sondern eher im Sinne von: vereint im Schrecken. Denn das Gebäude, das sie auf der Insel schließlich finden, erinnert an ein verwahrlostes früheres Krankenhaus, ein obskures Sanatorium, wo man auch genetische Experimente durchführte. Hier, mitten in der derangierten Tristesse, treffen sie auf ihre Restfamilie, drei Brüder, die nicht nur ihre Hasenscharten vereinen, sondern auch das problemlose Zugleich von brutaler Prügelei, mit der Gabriel und Elias empfangen werden, und einem Hang zu überaus gepflegten biologisch-theologischen Grundsatzdebatten.
Klar scheint: Der Ort birgt jene dunklen Geheimnisse, wie sie eine allzu schnell voranstürmende Wissenschaftsbegeisterung produziert, die deren schadhafte Resultate hinter dicken Kellertüren wegsperrt. Darum geht es in »Men & Chicken« und mehr an Handlungs-Details preiszugeben, wäre unfair. Nur soviel: Der merkwürdige Familienanhang mit seiner gewiss pervers zu nennenden Parallel-Neigung zur physischen Gewalt und - in den Pausen dazwischen - zu geistreichen Unterhaltungen, pflegt ein auffälliges Hobby: Tiere ausstopfen. Und das wohl nicht nur, weil man sich mit den Brettern, auf die man all die toten Füchse oder Vögel montiert hat, so wunderbar gegenseitig auf den Kopf hauen kann.
Merkwürdigerweise sehen die hier herumlaufenden Hühner in einigen anatomischen Details gar nicht wie Hühner aus. Und wo ist ihr uralter leiblicher Vater und wo die Mutter, die zu treffen sie hierher kamen?
Nein, es ist kein Horrorfilm im engeren Sinne, eher eine auf die Spitze getriebene Groteske, die mit den Attributen unseres wissenschaftlich-technischen Machbarkeitswahns ihr bitter-böses Spiel spielt. Wenn die Folge von Gentechnik sein sollte, dass man eines Tages die Frage der Selbsterkenntnis dahingehend beantworten müsste, welche Arten von Tieren genetisch jeweils ihren Anteil daran haben (da gibt es überaus unangenehme Vertreter, deren Gene man nicht gern in sich trüge!), was für ein Mensch man ist, dann würde man wohl zwangsläufig zum Wissenschaftsskeptiker werden. Züchtung, so lernen wir in »Men & Chicken«, kann misslingen - und selbst wo nicht, scheinen ihre Resultate oft überaus unsympathisch. Doch nun sind sie in der Welt.
Bemerkenswert an diesem Film ist nicht zuletzt die Vertrautheit des abgeschiedenen Ortes. Da in Babelsberg gedreht wurde, kam man schnell darauf, die surrealen Erinnerungen an ein Krankenhaus, in dem heute an den Wänden die Farbe abblättert und der Wind durch zerbrochene Fensterscheiben weht, in einem wahrhaft dafür prädestinierten geisterhaften Ort zu drehen: in Beelitz Heilstätten.
Das sind dann auf morbide Weise schöne Bilder geworden. Im ganzen aber wirkt die Handlung auf konstruierte Weise überdreht und geradezu offensichtlich verkorkst. All die allzu schrägen Typen und ihr Geheimnis, das sie verbindet, an einem Ort voll zelebrierter Ödnis, das findet in »Men & Chicken« doch keinen überzeugenden Erzählrhythmus.
Aber vielleicht musste der Regisseur nach der genial-simplen Konstruktion von »Adams Äpfel« eine derart verkopfte, also jederzeit als ausgedacht bemerkbare Handlung erfinden, einfach des Experiments, des Gedankenexzesses wegen.
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