Ernüchterung im Streikzelt
Bei streikenden Postlern sorgt der Tarifabschluss für Erleichterung, erntet aber noch mehr Kritik
Kaum haben im mondänen Bad Neuenahr die Unterhändler von ver.di und Deutscher Post am schwül-heißen Sonntagabend ihr Tarifwerk unterzeichnet und das Ergebnis ins Internet gestellt, hagelt es in sozialen Netzwerken auch schon Kritik aus den eigenen Reihen. »Die wollten bestimmt ins Freibad, oder haben zu viel PeP TV geschaut«, schreibt ein Postler in Anspielung auf die betriebsinterne Propagandaberieselung. »Dieser Abschluss ist ein fauler Kompromiss und Schlag in das Gesicht aller Beschäftigten«, meint ein anderer. »Für diesen Abschluss war es nicht wert, vier Wochen zu streiken« und »Für einen gescheiten Abschluss hätte ich noch weiter gestreikt«, lauten weitere Einträge.
Enttäuschung steht am Montagvormittag auch Eike von Seemen ins Gesicht geschrieben. Der ver.di-Vertrauensmann stand vier Wochen bei Hitze und Regen vor dem Briefzentrum Mainz-Kastel Streikposten. »Das hätten wir auch ohne vier Wochen Streik kriegen können«, kommentiert der Gewerkschafter die Verhandlungsergebnisse, die er zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen am letzten Streiktag erfährt.
- Keine betriebsbedingten und Änderungskündigungen bis Ende 2019.
- Die Fremdvergabe in der Brief- und Verbundzustellung ist bis Ende 2018 ausgeschlossen.
- Die Beschäftigten erhalten 400 Euro Einmalzahlung zum 1. Oktober 2015, zwei Prozent mehr ein Jahr später und weitere 1,7 Prozent zum 1. Oktober 2017.
- Für Auszubildende und Studierende an Berufsakademien wurden ebenfalls ein Einmalbetrag und entsprechende lineare Erhöhungen vereinbart.
- Die Auszubildenden des Prüfungsjahrgangs 2015 erhalten unbefristete Arbeitsverhältnisse in Vollzeit.
- Außerdem erhalten Beschäftigte, die zum Stichtag 1. Juli 2015 länger als 24 Monate ununterbrochen befristet eingestellt waren, bei Eignung ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bei der Deutschen Post AG. Quelle: ver.di
Sicher - der Schutz für alle Beschäftigten vor betriebsbedingten Kündigungen und Änderungskündigungen gilt nun bis Ende 2019. Die derzeit über 7600 Paketzusteller der Post AG bleiben bei ihrem bisherigen Arbeitgeber und müssen nicht damit rechnen, in die neue Billigtochterfirma Delivery GmbH abgeschoben zu werden. Diese Punkte, die viele hier in der letzten Streikversammlung mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen, sieht auch Eike von Seemen. »Einiges davon hätten wir auch ohne Streik bekommen.« Gemessen an der Stimmung unter den Streikenden, den ver.di-Forderungen und Reden der ver.di-Spitze sei das Ergebnis allerdings alles andere als zufriedenstellend. So hätten die ver.di-Unterhändler in Bad Neuenahr in zwei zentralen Anliegen gar nichts erreicht: bei der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung von 38,5 auf 36 Wochenstunden und dem Ziel, durch Druck von unten die vom Postvorstand betriebene Ausgründung von 49 regionalen Delivery GmbH und damit die anhaltende Spaltung der Belegschaft rückgängig zu machen.
Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung sei eine Reaktion auf die Erkenntnis gewesen, dass ver.di in früheren Tarifrunden der Post mit Zugeständnissen weit entgegen gekommen sei, das Management aber die im Gegenzug versprochene Begrenzung der Fremdvergabe an Externe nicht eingehalten habe. Es sei »sehr traurig«, dass sich an dieser Front nichts bewegt habe.
ver.di-Chef Frank Bsirske und ver.di-Verhandlungsführerin Andrea Kocsis hatten noch am 18. Juni bei einer Kundgebung vor der Bonner Konzernzentrale einen anhaltenden Widerstand von ungewisser Dauer gegen Ausgründungen angekündigt. »Ohne die Rückführung der Delivery GmbH unter das Dach der Post und den Haustarif wird es keinen Frieden geben«, so Bsirske damals im O-Ton vor dem Post-Tower. Geschwätz von gestern im friedlichen Bad Neuenahr? Im Tarifinfo, das am Montag ausliegt, heißt es nur noch: »Die Post AG war nicht bereit, über die Rückführung der Delivery GmbHs unter das Dach der Deutschen Post AG zu verhandeln.«
Wie Eike von Seemen stellen sich andere Gewerkschafter die Frage, ob eine Fortsetzung des Streiks nicht viel mehr Druck auf den Vorstand und den Bund als nach wie vor größten Einzelaktionär erzeugt hätte, um ein Nachgeben der Arbeitgeberseite zu erzwingen. Schließlich war die Kampfmoral unter den Streikenden nach allgemeiner Einschätzung anhaltend hoch und noch längst keine Ermattung zu verzeichnen, die vielleicht einen raschen Streikabbruch gerechtfertigt hätte.
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