Früherer SS-Mann Gröning zu vier Jahren Haft verurteilt

94-Jährige habe sich der Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen schuldig gemacht / Nebenkläger einverstanden / Simon-Wiesenthal-Zentum begrüßt Urteil / Auschwitz-Komitee hält Strafe für zu gering

  • Lesedauer: 7 Min.

Update 12.55 Uhr: Auschwitz-Prozess: Verteidigung und Anklage prüfen Revision
Nach dem Urteil im Lüneburger Auschwitz-Prozess überlegen Staatsanwaltschaft und Verteidigung Rechtsmittel einzulegen. »Wir werden das Urteil jetzt erstmal prüfen«, sagte die Sprecherin der Staatsanwaltschaft Hannover, Kathrin Söfker, am Mittwoch. Eine Revision sei nicht ausgeschlossen. Ähnlich äußerte sich die Verteidigung. »Wir werden die Einlegung einer Revision prüfen«, sagte Oskar Grönings Anwalt Hans Holtermann. »Darüber sprechen wir noch mit Herrn Gröning.« Anklage und Verteidigung hatten gefordert, dass die Verzögerungen der schon 1977 erstmals geführten Ermittlungen zugunsten Grönings berücksichtigt werden müssten. Das Gericht sah dafür laut dem Urteil aber keinen Anlass.

Update 12.07 Uhr: Auschwitz-Komitee hält Strafe für zu gering
Das Internationale Auschwitz Komitee hat das Urteil gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning als zu milde kritisiert. »Angesichts der 300.000 in Auschwitz ermordeten Juden wäre einzig der Ausspruch einer lebenslangen Haftstrafe angemessen gewesen«, sagte Vizepräsident Christoph Heubner am Mittwoch dem Evangelischen Pressedienst (epd). Dennoch sei der Prozess für die Überlebenden auch mit Blick auf ihr Verhältnis zu Deutschland enorm wichtig gewesen: »Er hat ihnen neue Wege nach Deutschland eröffnet.«

Der Auschwitz-Prozess von Lüneburg in Zitaten

Wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau muss sich der frühere SS-Mann Oskar Gröning vor dem Landgericht Lüneburg verantworten. Wichtige Zitate aus dem Prozess:

»Für mich steht außer Frage, dass ich mich moralisch mitschuldig gemacht habe.« (Gröning beim Prozessbeginn)

»Über die Frage der strafrechtlichen Schuld müssen Sie entscheiden.« (Gröning zum Vorsitzenden Richter Franz Kompisch)

»Wenn die Juden unsere Feinde sind, ist es Teil des Krieges, dass sie erschossen werden.« (Gröning über seine damalige Denkweise)

»Ein SS-Rottenführer nahm das Baby, schlug das Baby gegen einen Lkw und das Schreien hörte auf.« (Gröning über seine Erlebnisse)

»Man rühmte sich, dass man in 24 Stunden 5000 Tote versorgen könnte.« (Gröning zum Verbleib der Ermordeten)

»Ich bin ein armer, kleiner Unteroffizier gewesen.« (Gröning zur Begründung, warum er einige Fragen zum Lager nicht beantworten kann)

»Ich konnte mir das nicht vorstellen.« (Gröning auf die Fragen der Nebenklage, ob er sich vorstellen konnte, dass auch nur ein Jude lebend aus dem Lager herauskommen würde)

»Das ist heute natürlich anders zu beantworten als damals. Da bin ich jetzt ganz anderer Meinung als damals.« (Gröning zur Frage, ob die Vernichtung der Juden nach seiner Einschätzung richtig gewesen sei)

»Mir ist bewusst, dass ich mich durch meine Tätigkeit in der Häftlingsgeldverwaltung am Holocaust mitschuldig gemacht habe, mag mein Anteil auch klein gewesen sein.« (Gröning in einer von seiner Anwältin verlesenen Erklärung)

»Es war ein furchtbarer Geruch in der Luft, wie verbranntes Fleisch.« (Der Auschwitz-Überlebende Max Eisen als Zeuge im Prozess)

»Nein, nicht übertrieben.« (Gröning zur Aussage des Auschwitz-Überlebenden Max Eisen)

»Meine Vergebung spricht die Täter nicht frei.« (Die Auschwitz-Überlebende Eva Kor als Zeugin vor Gericht. Später reicht sie Gröning zweimal die Hand.)

»Es geht mir nicht um die Strafe, es geht mir um das Urteil, die Stellungnahme der Gesellschaft.« (Die Auschwitz-Überlebende Eva Pusztai-Fahidi als Zeugin vor Gericht)

»Vielleicht kann Gott vergeben, ich kann es nicht.« (Die Auschwitz-Überlebende Hedy Bohm als Zeugin vor Gericht)

»Herr Gröning, Sie haben gesagt, dass Sie moralisch verantwortlich sind. Das ist nicht genug.« (Die Auschwitz-Überlebende Kathleen Zahavi als Zeugin vor Gericht)

»Wenn wir nachts draußen arbeiteten, sahen wir das Feuer der Schornsteine und die Schreie und Gebete waren so laut, dass ich mir die Ohren zuhielt.« (Die Auschwitz-Überlebende Irene Weiss als Zeugin vor Gericht)

»Wir sind hier mit einem Geschehen konfrontiert, das an die Grenzen menschlichen Verstehens geht.« (Staatsanwalt Jens Lehmann in seinem Plädoyer)

»Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte. Herr Gröning hat mitgemacht, und deswegen wird er wegen Beihilfe zum Massenmord verurteilt werden. Viel zu spät, aber nicht zu spät.« (Nebenkläger-Vertreter Cornelius Nestler in seinem Plädoyer)

»Die Opfer haben wieder Gesichter bekommen.« (Nebenkläger-Anwalt Christoph Rückel)

»Sie haben nicht wie Tausende andere geschwiegen.« (Nebenkläger-Anwalt Markus Goldbach zu Gröning)

Update 11.20 Uhr: Schuster: Versäumnisse der deutschen Justiz lassen sich nicht mehr gut machen
Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat das Urteil gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning begrüßt. »Das war sehr wichtig, weil damit ein NS-Täter zur Rechenschaft gezogen wurde«, sagte Schuster am Mittwoch in Berlin. Für die Opfer und ihre Angehörigen habe die Verurteilung eine hohe Bedeutung.

Schuster ergänzte, die Versäumnisse der deutschen Justiz, die solche Verfahren jahrzehntelang verschleppt oder verhindert habe, ließen sich damit dennoch nicht mehr gut machen. Wenigstens habe Gröning eine moralische Mitschuld eingeräumt. Schuster dankte den Zeugen im Prozess. Sie hätten große Strapazen auf sich genommen und zur Verurteilung des Täters beigetragen.

Das Verfahren habe der deutschen Gesellschaft zudem noch einmal die Verbrechen der Schoah vor Augen geführt und gezeigt, dass die Opfer noch Jahrzehnte später unter den Folgen leiden. »Für unseren Umgang mit der deutschen Vergangenheit hat damit der Prozess einen wichtigen Beitrag geleistet«, sagte Schuster. Er äußerte zugleich die Hoffnung, dass sich noch weitere NS-Täter vor Gericht verantworten müssen.

Update 10.40 Uhr: Weitere Anklagen und Ermittlungen gegen frühere SS-Männer
Außer dem am Mittwoch verurteilten Oskar Gröning sind zurzeit zwei weitere hochbetagte frühere SS-Männer wegen ihrer mutmaßlichen Verstrickung in die Auschwitz-Verbrechen bei deutschen Gerichten angeklagt. Das teilte die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg dem Evangelischen Pressedienst (epd) mit.

Die Staatsanwaltschaft Dortmund hat einen 93-Jährigen aus dem nordrhein-westfälischen Lage wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Auschwitz angeklagt. Er soll von Januar 1943 bis Juni 1944 als Angehöriger der SS-Wachmannschaft an der Tötung von mindestens 170.000 Menschen beteiligt gewesen sein. Der Beschuldigte bestreitet dies, hat aber eingeräumt, im Lager Auschwitz I eingesetzt gewesen zu sein. Das Landgericht Detmold muss noch über die Eröffnung des Verfahrens entscheiden.

Vor dem Landgericht Neubrandenburg soll sich nach dem Willen der Staatsanwaltschaft Schwerin demnächst ein 94-jähriger Mann verantworten. Er soll als SS-Sanitäter im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau tätig gewesen sein, wie die Ermittlungsbehörde in ihrer Anklage schreibt. Ihm wird deshalb Beihilfe zum Mord in 3.681 Fällen vorgeworfen. Das Gericht lässt derzeit die Verhandlungsfähigkeit des Beschuldigten überprüfen.

Darüber hinaus seien sieben Ermittlungsverfahren gegen mutmaßliche Auschwitz-Aufseher noch nicht abgeschlossen, sagte der Ludwigsburger Staatsanwalt Thomas Will. 23 Verfahren seien wegen Todes der Beschuldigten oder Verhandlungsunfähigkeit eingestellt worden. Weitere Prozesse seien derzeit nicht abzusehen. »Dies kann sich jedoch relativ schnell ändern und ist schwer zu prognostizieren«, sagte Will.

Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen hatte 2013 Vorermittlungsverfahren gegen insgesamt 30 ehemalige KZ-Aufseher abgeschlossen. Die Verfahren wurden an die zuständigen Staatsanwaltschaften in elf Bundesländern abgegeben.

Update 10.35 Uhr: Simon-Wiesenthal-Zentrum begrüßt Urteil
Das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem hat das Urteil gegen den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning als »wohlverdient« begrüßt. »Wir hoffen, dass dies die deutschen Behörden ermutigen wird, weitere Fälle zu verfolgen«, sagte der Leiter Efraim Zuroff der Deutschen Presse-Agentur nach dem Urteil am Mittwoch. Konkret nannte er beispielsweise ehemalige Mitglieder von Einsatzgruppen.

»Dieser Fall war sehr, sehr wichtig für uns«, sagte Zuroff weiter. Er habe bei seiner Arbeit viele Enttäuschungen erlebt. Doch dieses Urteil zeige ihm, dass die Strafverfolgung ehemaliger NS-Verbrecher weitergehen müsse.

Update 10.30 Uhr: Nebenkläger einverstanden mit Urteil
Die Nebenkläger im Lüneburger Auschwitz-Prozess sind mit dem Urteil gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning einverstanden. »Es erfüllt uns mit Genugtuung, dass nunmehr auch die Täter Zeit ihres Lebens nicht vor einer Strafverfolgung sicher sein können«, hieß es am Mittwoch in einer Erklärung von Anwalt Thomas Walther. Erstmals habe sich in einem Prozess wegen NS-Verbrechen ein Angeklagter zu seiner Schuld bekannt und sich dafür entschuldigt. Walther vertritt mit einem Kollegen viele der über 70 Nebenkläger, zumeist Überlebende von Auschwitz. Gröning wurde wegen Beihilfe zum Massenmord in dem Vernichtungslager zu vier Jahren Haft verurteilt.

Früherer SS-Mann Gröning zu vier Jahren Haft verurteilt

Lüneburg. Im Auschwitz-Prozess hat das Landgericht Lüneburg den früheren SS-Mann Oskar Gröning zu vier Jahren Haft verurteilt. Er habe sich der Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen schuldig gemacht, urteilte das Gericht am Mittwoch. Ob der gesundheitlich angeschlagene 94-Jährige haftfähig ist, muss die Staatsanwaltschaft prüfen, wenn das Urteil rechtskräftig ist. Das Gericht ging mit seinem Urteil über das von der Anklage geforderte Strafmaß hinaus.

Gröning hatte im Prozess seine Beteiligung und moralische Mitschuld am Holocaust eingeräumt. Der später auch »Buchhalter von Auschwitz« genannte Gröning hatte gestanden, Geld von Verschleppten gezählt und zur SS nach Berlin weitergeleitet zu haben. Er sagte aus, zwei- bis dreimal vertretungsweise Dienst an der Rampe getan zu haben, um dort Gepäck zu bewachen.

Die Staatsanwaltschaft hatte dreieinhalb Jahre Haft gefordert, von denen 22 Monate als verbüßt angesehen werden sollten, weil eine Verurteilung schon vor Jahrzehnten möglich gewesen wäre. Erste Ermittlungen hatte es 1977 gegeben. Anwälte der über 70 Nebenkläger hielten das von der Staatsanwaltschaft verlangte Strafmaß für zu gering. Die Verteidiger plädierten auf Freispruch, weil Gröning den Holocaust im strafrechtlichen Sinne nicht gefördert habe. Im Falle eines Schuldspruchs solle von einer Strafe abgesehen werden.

In dem knapp drei Monate dauernden Prozess, der auch auf großes Interesse im Ausland stieß, hatten etliche Holocaust-Überlebende in erschütternden Details ihre Verschleppung sowie den Massenmord in dem Vernichtungslager geschildert. Dabei kamen unter anderem die menschenverachtenden medizinischen Experimente von Lagerarzt Josef Mengele sowie das Vergasen und Verbrennen von Juden im Takt der eintreffenden Züge zur Sprache. Auch die Schrecken der nächsten Generation, die mit dem Schatten ihrer in den Konzentrationslagern ermordeten Familien aufwuchsen, wurden eindringlich geschildert.

In dem womöglich letzten Auschwitz-Prozess hatte Gröning eine Antwort auf die Frage zu geben versucht, was den Einzelnen zur Beteiligung an den Verbrechen hatte bringen können. Wegen der schlechten Gesundheit des 94-Jährigen stand der Prozess mehrmals auf der Kippe, mehrere Verhandlungstage fielen aus.

Gröning kam erst jetzt vor Gericht, weil die Justiz bis 2011 darauf bestand, dass KZ-Aufsehern eine direkte Beteiligung an den Morden nachgewiesen werden muss. Frühere Ermittlungen gegen Gröning waren daher 1985 eingestellt worden. Erst nachdem die Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen ihre Beurteilung änderte, kamen die Ermittlungen und einige KZ-Aufseher wieder in Gang. dpa/nd

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.