Das tägliche Überleben
Für Axel Berger ist die globale Mittelschicht nicht viel mehr als eine Legende. Eine neue Studie gibt ihm Recht
Für die zweite Amtszeit Barack Obamas legte der National Intelligence Council, der seit 1979 für jeden neuen Präsidenten Informationen aus den US-Nachrichtendiensten aufbereitet, im Jahr 2013 einen Bericht über die wahrscheinlichsten globalen Entwicklungen bis 2030 vor. Als einer der hervorstechendsten Trends der vergangenen Jahre, der sich weiter fortsetzen werde, wurde darin die »enorme Ausweitung der Mittelschicht in fast allen Staaten der Erde« ausgemacht. Eine seit den Millenniumszielen der Vereinten Nationen in fast allen Papieren internationaler Organisationen stets wiederkehrende Prognose.
Nun hat das renommierte Washingtoner Pew Research Center die Ergebnisse einer international angelegten Langzeitstudie für das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends vorgelegt, die dies nachhaltig in Frage stellt. »Die globale Mittelklasse ist kleiner, als wir denken, und steht schlechter da, als wir denken, und ist sehr viel mehr auf bestimmte Regionen beschränkt, als wir denken«, so fasst der für die Studie verantwortliche Wirtschaftswissenschaftler Rakesh Kochhar die beunruhigenden Ergebnisse zusammen.
Zwar sei der Anteil der Armen, die mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen müssen, zwischen 2001 und 2011 von 29 auf 15 Prozent gesunken - eine Entwicklung, die in fast allen Bereichen über die Studie im Vordergrund stand -, aber ein nachhaltiger Aufstieg für die meisten von ihnen sei nicht zu verzeichnen gewesen. Nach wie vor müsse der Großteil der Weltbevölkerung mit einem Haushaltseinkommen zwischen zwei und zehn Dollar täglich über die Runden kommen.
Angesichts der Verringerung der Kaufkraftparität des Dollars innerhalb des Zeitraums und der Erosion staatlicher Sicherungssysteme in weiten Teilen der Staatenwelt ist hier kaum Licht am Ende des Tunnels auszumachen. Insgesamt 71 Prozent der globalen Bevölkerung müssten der Studie zufolge mit einem Haushaltseinkommen deutlich unter der Zehn-Dollar-Schwelle auskommen, die allgemein für einen auch nur halbwegs stabilen Lebensstandard, der eher einem Überleben gleicht, angesetzt wird. Selbst den nicht gerade zimperlichen Ökonomen der Weltbank gilt diese Bestimmung als absolute Mindestmarke eines »dauerhaft gesicherten Lebens«.
Vollends statisch wird die Entwicklung, wenn man die »obere mittlere Einkommensschicht« betrachtet. Die Grenze stellt hier ein Hauhaltseinkommen von über 20 US-Dollar am Tag dar - in den USA die Untergrenze absoluter Verarmung. Denn während die Zahl der Haushalte mit einem Tageseinkommen zwischen 10 und 20 Dollar sich fast verdoppelt hat - eine Entwicklung, die fast ausschließlich China geschuldet ist, wo sich ihre Zahl binnen der Zehnjahresfrist auf etwa 235 Millionen mehr als verzehnfacht hat -, sind darüber kaum noch Veränderungen zu verzeichnen. Nur 16 Prozent der Menschen konnten 2011 auf eine derart definierte »gesicherte Existenz« zählen, deren Untergrenze den hiesigen Hartz-IV-Satz deutlich unterschreitet. 2001 waren es nur drei Prozent weniger gewesen.
Richtet man den Blick auf die für die Verhältnisse der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung gültigen Zahlen, dann fällt die Veränderung von weniger als einem Hundertstel praktisch gar nicht mehr ins Gewicht. Und: Bei den hier angesetzten Haushaltseinkommensgrenzen von mindestens 50 Dollar täglich gelten weiterhin die altbekannten regionalen Einschränkungen. Zu 87 Prozent kommen die sieben Prozent der Haushalte mit »einem stabilen Zugang zu den Gütern des Massenkonsums« aus Europa und Nordamerika.
Business as usual also: Jenseits der alten Zentren des Kapitalismus ist ein solcher stabiler Zugriff auf die Warenkörbe über die primäre Bedürfnisbefriedigung hinaus, und angesichts der eine Milliarde Hungernder häufig genug nicht einmal diese, lediglich für winzige Minderheiten gewährleistet. Nimmt man noch Ostasien aus, so existieren neben den Eliten der Entwicklungs- und Schwellenländer in den jeweiligen Staaten nach wie vor kaum mit westlichen Lebensweisen auch nur ansatzweise vergleichbare Mittelschichten. Allen Legenden, oder schlimmer noch: aller Propaganda zum Trotz, an denen vor allem die internationalen Institutionen so gerne stricken, geht es für die große Masse der Weltbevölkerung weiterhin fast täglich ums Überleben. Und wenig spricht dafür, dass sich dies bis 2030 geändert haben könnte.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.