In der Internet-Demokratie
Martin Leidenfrost über echte und falsche Sterne in der italienischen Provinz
In einer der großen Volkswirtschaften läuft ein Experiment: Eine Partei, die ein Viertel der Parlamentssitze besetzt, behauptet, ihr »Nicht-Programm« mittels Mitglieder-Abstimmungen im Internet festzulegen.
Die Partei heißt »Bewegung Fünf Sterne«. Ihr Führer, der Komiker Beppe Grillo, brüllt seit einem Jahrzehnt »Vaffunculo!« von den Marktplätzen, »Fickt euch!«; seit Griechenland gezüchtigt wird, verzeichnet der Befürworter eines Euro-Austritts Italiens wieder enormen Zulauf. Beinahe unsichtbar ist der zweite Mann, der Internet-Unternehmer Gianroberto Casaleggio. In seinem Film »Gaia« sagt der feingliedrige Vegetarier den Dritten Weltkrieg voraus, zwischen Russland/China und dem Westen. Eine Milliarde Menschen bleibt übrig, danach aber wird alles gut. Staaten und Religionen verschwinden, Google bleibt, und ab 2054 gibt es nur noch gleichberechtigt partizipierende Bürger des einen weltweiten Web. Ich will die Anfänge dieser Internet-Demokratie sehen.
Das ist nicht ganz leicht. Nirgends in Europa kommt man so schwer ins Netz wie in Italien, die WIFI-Versorgung ist unterm Hund. Auch haben die »Fünf Sterne« keine Parteilokale, die man aufsuchen könnte. Sitzungen werden über die US-Homepage »Meetup« organisiert, für Nicht-Mitglieder sind die Treffpunkte uneinsehbar. Nur für die venetische Kleinstadt Quinto di Treviso ist eine Adresse angegeben, ein kuscheliger Telefonshop für afrikanische Kunden. Der italienische Inhaber, Wähler der »Fünf Sterne«, lacht: »Das Meetup war letztes Jahr.«
Über Casaleggios Buch »Web ergo sum« komme ich auf Livorno. In jener Hafenstadt suchte Casaleggio den Komiker 2004 nach einer Show auf. Grillo erinnert sich: »Alles war klar, er war ein Wahnsinniger. Er war befallen von dem neuen Wahnsinn, demzufolge sich alles dank dem Netz zum Besseren wendet.« Ein Jahr nach Casaleggios Einstieg zählte Grillos Blog zu den zehn erfolgreichsten der Welt - und im erzroten Livorno regieren die »Fünf Sterne«.
Ich fahre ans Tyrrhenische Meer. Die Geburtsstadt der italienischen KP empfängt mich mit schäbigen Leitplanken. Kaum eine halbe Stunde Formalkram, und schon surfe ich im neuen WIFI der Kommune. Verwirrt pendle ich zwischen »5stelle-livorno.it« und »livorno5stelle.it«. Die einen werfen den anderen vor, nicht von Beppe Grillo genehmigt zu sein.
Am prächtigen Rathaus hängt eine Regenbogenfahne. Ich marschiere zu den Fraktionsräumen; allein hinter der Tür mit den fünf Sternen sind um 18 Uhr noch Stimmen zu hören. Ich werde eingelassen. »Darf ich sehen, wie Ihre Online-Demokratie funktioniert?« Zwei schlanke Herren antworten: »Sehr gern!« Ich frage Alessandro und Giuseppe, ob ihnen mein Besuch auch keinen Ärger einbringt; immerhin schlossen die Capos schon ein Viertel der Abgeordneten aus, etwa wegen Auftritten in Talkshows. Zu meinem Glück bin ich nicht von der italienischen Presse, mich fürchten sie weniger. Sie prahlen: »Im Freihafen von Livorno haben alle Zuflucht gefunden, Piraten, Huren …« - »Sind Sie Piraten?« - »Ja! Ja!«
Gemeinderatsabgeordneter Giuseppe erzählt, dass er in internen Vorwahlen Kandidat wurde. Nun ja, das Scannen und Überprüfen der Personalausweise sei schwierig gewesen. Naja, an der Vorwahl hätten nur 150 Mitglieder teilgenommen, »so 20 waren für mich«. Hm, bei 160 000 Einwohnern nicht gerade eine Volksfront.
Sie beschreiben mir die Prozedur: Zunächst bekommt das Mitglied eine Mail von Beppes Blog, dieser ruft die Abstimmung aus. Mitgliedschaft bei Meetup und Facebook wird vorausgesetzt. Die Abstimmung findet auf einem anderen Portal statt, auf Airesis. »Darf ich kucken?« - »Sicher.« Ich starre auf den Bildschirm. Die Liste mit den Initiativen, über die üblicherweise 48 Stunden lang abgestimmt wird, lässt sich nicht öffnen.
Da plaudern wir eben nur so über die anliegenden Abstimmungsthemen. »Am populärsten war die Forderung nach Gratisfahrt im Öffentlichen Nahverkehr.« Ansonsten arbeiten sie an einer Petition gegen die Privatisierung der Müllwirtschaft, wie das die demokratische Regionalregierung in der Südtoskana schon getan habe. Bei den beiden blitzt kurz ihre linke Vergangenheit auf: »Renzis Demokraten sind nicht links, die sind Mitte-rechts.« Ich sitze sicher eine Stunde bei Giuseppe und Alessandro, Airesis bleibt aufgehängt. Vielleicht habe ich aber auch die falschen »Fünf Sterne« besucht. In diesem Fall bitte ich die echten um Nachsicht.
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