Möglichst viele sammeln
Warum wir die Verhältnisse im Herzen der Krise in Bewegung bringen müssen. Plädoyer für eine breite Plattform gegen Austerität. Von Bernd Riexinger
Angesichts der Drohung eines ungeordneten Grexits wurde Alexis Tsipras dazu gezwungen, einem weiteren Austeritätsprogramm zuzustimmen. Das Land droht dadurch weiter im Teufelskreis von Massenarbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise, steigenden Schulden und Armut gefangen zu bleiben. Ohne Zweifel handelt es sich um einen herben Rückschlag für SYRIZA. Er drückt aber auch die Schwäche der Linken in Europa aus. Es wäre daher fatal, SYRIZA an falschen Maßstäben und enttäuschten Hoffnungen zu messen – und es wäre völlig ungerecht, »Verrat« zu schreien. Die griechische Regierung hat hart verhandelt – ihre Handlungsspielräume waren angesichts der wirtschaftlichen Lage und der politischen Kräfteverhältnisse in der EU von Anfang an begrenzt.
Wenn Angela Merkel und Wolfgang Schäuble trotz Kritik von Nobelpreisträgern und sogar vom IWF vehement an der rigiden Austeritätspolitik festhalten, hat dies zwei Gründe. Deutschland organisiert als das ökonomisch stärkste Land maßgeblich das gemeinsame Projekt des europäischen Kapitals und der neoliberalen Elite: Europa soll zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt werden. Alle politischen Entscheidungen werden an diesem Ziel ausgerichtet. Die Austeritätspolitik (u.a. durch Schuldenbremsen) nimmt nicht nur die Gestalt des Krisenregimes der Troika an, die nicht demokratisch legitimiert ist, sondern ist fest im Institutionengefüge (allen voran der EZB) der EU und der Verfassung der EU (unter anderem dem Fiskalpakt) verankert worden. Die Entscheidungen auf europäischer Ebene sollen weitgehend gegen den Einfluss gewählter Parlamente, gegen die Ansprüche der Beschäftigten und erst recht gegen das aktive Eingreifen der Menschen in die Politik abgeschottet werden. Die Verhandlungen wurden vonseiten der Gläubiger mit dem Ziel des Kniefalls der griechischen Regierung geführt. SYRIZA darf aus Sicht der neoliberalen Eliten nicht erfolgreich sein, sonst drohen Brüche mit der Austeritätspolitik auch in anderen Ländern wie Spanien, Irland und Italien.
#ThisIsACoup
Deutsch-Europa gegen SYRIZA. Materialien zum Stand des griechischen Frühlings. Das zweite Griechenland-Dossier von »neues deutschland« in Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Hier weiterlesen
Zum Griechenland-Special der Zeitschrift »luXemburg«
Ein langes halbes Jahr zwischen Aufbruch und Ernüchterung, das uns die Möglichkeit linker Wahlsiege und gesellschaftlicher Mobilisierungen genauso wie die engen Grenzen des autoritär-neoliberalen Europas drastisch vor Augen geführt hat. Hier weiterlesen
100 Tage SYRIZA
Seit Ende Januar ringt die SYRIZA-geführte Regierung in Athen mit den Gläubigern um die Zukunft Griechenlands. Dabei trifft sie auf heftigen Widerstand in Brüssel und Berlin. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung zieht mit diesem Online-Dossier in Kooperation mit der Tageszeitung »neues deutschland« eine erste Bilanz . Hier weiterlesen. Und hier gibt es noch ein rls-Dossier.
Zweitens: von der neoliberalen Konstruktion der Eurozone profitieren besonders die exportorientierten Großkonzerne in Deutschland, die als Gewinner aus der europäischen Krise hervorgehen. Wenn Schäuble auf den Grexit setzt, zeigt das nicht nur eine – in neoliberalen Dogmen – erstarrte Weltsicht des Finanzministers, sondern auch, dass relevante Teile des deutschen Kapitals das Projekt des Wettbewerbsraumes Europa lieber in Form eines Kerneuropas unter deutscher Führung fortsetzen möchten. Das führt zu Widersprüchen mit Frankreich und anderen europäischen Ländern.
Die Ereignisse der letzten Wochen haben gezeigt, worauf viele Kritikerinnen und Kritiker der neoliberalen Konstruktion der Europäischen Union seit Langem hinweisen: Angesichts der ökonomischen und politischen Machtverhältnisse in Europa reichen Regierungswechsel in Südeuropa und harte Verhandlungen alleine nicht aus, um eine Abkehr von der Austeritätspolitik durchzusetzen!
Die Verteidigung sozialer Standards und demokratischer Souveränität ist nur gegen die neoliberale Verfasstheit der derzeitigen EU möglich. Ohne den Kampf für ein anderes Europa und eine soziale und demokratische Lösung der Krise drohen nicht nur weitere Wellen von Lohnsenkungen, Sozialabbau und Privatisierungen sondern auch eine endgültige Spaltung des Kontinents mit nicht vorhersehbaren Folgen.
Die europäische Linke steht daher vor der großen Herausforderung, eine gemeinsame Strategie zu entwickeln, die der ungleichzeitigen Entwicklung der Krise und den unterschiedlichen Kräfteverhältnissen in den einzelnen Ländern Rechnung trägt. Es geht zunächst darum, überhaupt Handlungsspielräume für eine linke Alternative in Griechenland und für mögliche linke Regierungen in Südeuropa zu schaffen.
Die griechische Regierung wird bei jeder geplanten Reform der finanziellen Erpressung der Gläubiger ausgesetzt sein. Mittelfristig braucht SYRIZA einen Plan B, der eine Mehrheit der unteren und mittleren Klassen in Griechenland überzeugen kann und wirtschaftlich umsetzbar ist, sonst droht die linke Alternative in Griechenland in dem eisernen Käfig der Austerität zu scheitern. Als Linke in Deutschland sollten wir überlegen, wie wir Druck auf die deutsche Regierung ausüben können, um der griechischen Regierung zu helfen, ihre Handlungsspielräume etwa durch die Besteuerung der Reichen in Griechenland und den Zugriff der Regierung auf ins Ausland transferierte Vermögen zu vergrößern.
Entscheidend ist es, die Kräfteverhältnisse in den »Kernländern« der neoliberalen EU-Architektur (allen voran Deutschland und Frankreich) in Bewegung zu bringen. Das ist eine riesige Herausforderung, vor der Viele derzeit etwas ratlos stehen – zugegeben. In den letzten Monaten wurde unter großen Anstrengungen bereits vieles unternommen, um Solidarität mit den Menschen in Griechenland und Alternativen zur Sparpolitik stark zu machen (von Veranstaltungen über Solidaritätskomitees bis zu Blockupy und dem 20. Juni). Das reichte allerdings nicht aus, um die Bundesregierung wirklich unter Druck zu setzen, zumal die Gewerkschaften sich bisher nicht aktiv an den Protesten beteiligen und es kaum gelingt, in die Gewerkschaftsbasis zu wirken. Also: Was tun?
Trotz der mehrheitlichen und hohen Zustimmung zur Krisenpolitik der Bundesregierung gibt es Resonanzräume in der Gesellschaft, die es zu nutzen gilt. Die unverhohlene Dominanzpolitik von Merkel und Schäuble, die Verarmung in Griechenland und die Aushöhlung der Demokratie in Europa stoßen bei einer deutlichen, aber relevanten Minderheit von etwa 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung auf Kritik.
Der Sozialdemokratie nahestehende Intellektuelle wie Jürgen Habermas oder Gesine Schwan haben den Kurs der Bundesregierung als gefährlich für Europa kritisiert, die kritischen Stimmen unter Anhängerinnen und Anhängern der Grünen und der SPD mehren sich und werden lauter. Mehr denn je geht es jetzt um die Überschreitung der bisherigen Grenzen der Proteste und die Bildung eines gesellschaftlichen Lagers des Neins zur Sparpolitik und Zerstörung der Demokratie, das über klassisch linke Kreise hinausgeht. Dafür brauchen wir Geduld, hartnäckige Arbeit und neue Ideen. Im Vordergrund muss die Ausweitung und Verstärkung der Aufklärungsarbeit stehen, damit überhaupt eine Basis für stärkere Proteste geschaffen werden kann.
Es gilt, dem neoliberalen und standortnationalistischen Deutungsmuster »Deutsche Interessen vs. griechische Interessen« eine Perspektive auf mögliche gemeinsame Interessen der Mehrheit der Menschen in Europa entgegenzusetzen!
Es wäre ein historischer Schritt in einer historischen Situation, wenn es gelänge, eine gemeinsame europäische Kampagne der linken Parteien und Bewegungen auf den Weg zu bringen, die diejenigen Europäerinnen und Europäer, die sich für ein soziales und demokratisches Europa aussprechen und die Basis der Gewerkschaften erreicht. Entscheidend ist es, eine Plattform zu schaffen, hinter der sich möglichst viele sammeln können. Es wäre notwendig, sich auf wenige gemeinsame (!) Forderungen zu einigen. Dazu könnten gehören: der Stopp der Austeritätspolitik und die Auflösung der Troika, eine europäische Schuldenkonferenz sowie ein Investitionsprogramm gegen Massenerwerbslosigkeit, für mehr Geld für Bildung, Gesundheitsversorgung und eine europäische Energiewende. Diese müsste mit der Forderung nach einer europaweite Vermögensabgabe und höherer Besteuerung der Reichen verbunden werden.
Ohne einen Kurswechsel in Deutschland – hin zu einer sozialen Alternative zum neoliberalen Exportmodell – wird es keine Lösung der Krise und keinen grundlegenden Richtungswechsel in Europa geben. Die größte Herausforderung für die deutsche Linke ist es daher, größere Teile der Beschäftigten für konkrete Verbesserungen der Arbeits- und Lebensverhältnisse zu gewinnen, die zugleich in ihrer Gesamtheit Alternativen zum neoliberalen Exportmodell darstellen. Eine Linke, die um gesellschaftliche Mehrheiten kämpfen will, darf sich nicht alleine auf die Kritik der Krisenpolitik der Bundesregierung konzentrieren, sondern muss die soziale Frage in den Mittelpunkt der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stellen.
Es muss deutlich werden: die Mehrheit der Menschen in Deutschland lebt unter dem, was in einem reichen Land wie diesem möglich ist. Der Kampf für steigende Löhne und die Aufwertung der von Frauen geleisteten Arbeit, gegen prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse, für einen massiven Ausbau der öffentlichen Daseinsvorsorge hin zu guter Bildung, Pflege, Gesundheitsversorgung für alle sowie für bezahlbares Wohnen und eine sozial gerechte Energiewende trifft zugleich ins Herz des neoliberalen Exportmodells, dessen Kehrseite auf Westeuropas größtem Niedriglohnsektor und der Abwertung des Öffentlichen beruht. Mit der Kampagne »Das muss drin sein« macht DIE LINKE ein Mitmachangebot an alle, die die Verhältnisse im Herzen der europäischen Krise in Bewegung bringen wollen.
Bernd Riexinger, Jahrgang 1955, ist Vorsitzender der Linkspartei. Sein Text ist zuerst im nd-Dossier #ThisIsACoup erschienen. Wo man das ganze Heft über den Stand des Griechischen Frühlings bekommt, erfahren Sie hier.
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