Staatsbürger in Uniform - und wie man einer wird
Im Kino: »Staatsdiener« von Marie Wilke
Das Plakatmotiv ist dramatischer als der Film selbst. Die schildbewehrte Schutzhaltung, die die Polizeischüler da einnehmen, ist die für den Ernstfall. Für Gefahr im Verzug, für Randale, für Kreuzberg am 1. Mai, als es ganz schlimm war.
Der Film selbst ist dagegen eher um Deeskalation bemüht, um im Jargon zu bleiben. Die Polizistenanwärter im ersten Lehrjahr, die Filmemacherin Marie Wilke bei ihrer Ausbildung an der Polizeifachschule Sachsen-Anhalt begleitete, sind von der Aussicht auf den Außeneinsatz mit möglicher Hooligan-Gewalt eher entnervt und sehr ernsthaft um eine Identitätsfindung als staatstragende Befehlsempfänger und bewaffnete Ausführungsorgane bemüht, die sich mit ihrem individuellen Gewissen und Rechtsempfinden vereinbaren lässt - einzelne Ausreißer mal als unausweichlich vorausgesetzt.
Die Schildkröte also - wie man sie aus den Asterix-Comics kennt, wenn die Gallier mal wieder die Legionen aufmischen, und die bei Großeinsätzen auch heute noch zur Anwendung kommt - sie gehört zur Ausbildungsroutine angehender Polizisten, so wie das Niederringen und Fesseln renitenter Verdächtiger oder randalierender Fußballfans und der selbstverständliche Umgang mit der Waffe. Aber längst nicht alles ist so dramatisch - oder gibt so gute Plakatmotive ab. Denn auch das Behördendeutsch will gelernt sein, die Abfassung von juristisch haltbaren Einsatzberichten, die korrekte Begrifflichkeit. Und natürlich die Rechte und Pflichten beider Seiten - der uniformierten und der in Zivil, mit der die künftigen Polizisten es im Alltag zu tun haben.
Wie so ein Aufeinandertreffen aussehen könnte, wie es abzulaufen hat, was gesagt und getan werden darf oder muss, wie man sich und die Kollegen schützt, wenn jemand eine Waffe zückt, das üben die Polizeischüler in nachgestellten Situationen, in denen Ausbilder Nachbarschaftsstreits simulieren - in Wohnräumen, die denen extrem ähneln, in die der erste Außeneinsatz dann prompt führt. Es sind desolate Plattenbausiedlungen mit den immer gleichen sozialen Problemen, in die die Polizisten da gerufen werden. Lärmende Nachbarn, rücksichtsloses Verhalten, ein Gast, der im Suff nicht wieder gehen will, worauf der Gastgeber aggressiv wird. Männer, die ihre Frauen schlagen, auch meist im Suff, und Frauen, die trotzdem die gemeinsame Wohnung nicht verlassen mögen - trauriger Alltag weit diesseits der dramatischen Angriffssituation, die das Filmplakat suggeriert.
Bewusst unaufgeregt hält Marie Wilke ihren Film, filmt vier ihrer Protagonisten beim Abendessen in der Diskussion darüber, was geht und was nicht im Umgang mit den anderen, den unbewaffneten, den nicht-uniformierten Staatsbürgern. Denen, die es zu schützen gilt, zwischen denen aber auch die Übeltäter lauern, die Aggressoren, die einmalig Straffälligen und die wiederholt Kriminellen. Denen man respektvoll begegnen soll, vor denen man sich aber auch schützen muss, weil sonst aus jedem kleinen Brennpunkt bald der Ernstfall wird. Was darf sich ein Polizist gefallen lassen, ohne dass die Würde des Amtes dabei Schaden nimmt? Ist ein verbales Kontern auf die Beschimpfungen Angetrunkener sinnlose Eskalation, wenn ein gnädiges Weghören es auch täte - und ab welchem Grad der Beschimpfung wird Beamtenbeleidigung aus dem schlechten Benehmen, ab welchem aus der Rempelei ein tätlicher Angriff?
Die rosenwangige angehende Polizistin jedenfalls, an deren Ausbildungserfahrungen und persönlichen Einschätzungen der Film am häufigsten hängen bleibt, die wird - so diagnostiziert der Küchenpsychologe im Kritiker spontan - entweder mal eine ganz besonders gute Polizistin werden, weil sie eine sichere instinktive Balance hält zwischen der eigenen Pflichtausübung, dem amtsgegebenen Misstrauen und den Rechten der anderen - und auch die richtigen Worte dafür findet. Oder sie wird an den Zumutungen eines Berufes scheitern, der eigenständiges Denken nicht zum vorrangigen Ziel hat, und stereotype Situationen zuhauf parat hält, die sich eben deshalb so gut in den Ausbildungsräumen simulieren lassen, weil sie immer und immer wieder nahezu wortgleich auftreten.
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