Sicherheit geht nur gemeinsam

Überlegungen zum 60. Jahrestag des Einstein-Russell-Manifestes

  • Egon Bahr
  • Lesedauer: 6 Min.
Die 1957 begonnenen »Pugwash Conferences on Science and World Affairs« waren eine Konsequenz des »Russell-Einstein-Manifestes« von 1955. Seit dem ersten Treffen im kleinen Fischerdorf Pugwash in Nova Scotia/Kanada kamen in internationalen Konferenzen und Workshops einflussreiche Wissenschaftler zusammen, um Beiträge zu Fragen der atomaren Bedrohung, zu bewaffneten Konflikten und Problemen der globalen Sicherheit zu leisten. Dieser Auszug aus Egon Bahrs Rede auf der Pugwash-Veranstaltung zum 60. Jahrestag des Russell-Einstein-Manifestes am 9. Juli 2015 in Berlin ist auch im außenpolitischen Magazin »Welttrends« veröffentlicht.

Das Einstein-Russell-Manifest markiert eine Revolution: Wissenschaftler warnen vor Gefahren, auf die die Politik antworten muss. Das waren damals die Wasserstoffbombe und eine unbegrenzte atomare Rüstung. Die Politik akzeptierte auf einem Höhepunkt des Kalten Krieges, dass Wissenschaftler unter dem Begriff Pugwash, dem Namen ihres Gründungsortes, ein Netz entwickelten, dessen Mitglieder in persönlicher Verantwortung die Gefahren für unsere Welt analysierten und einen mäßigenden Einfluss ausübten.

Die Verdienste von Pugwash sind unbestreitbar, weil diese Gruppe Vertrauen schuf und negative Entwicklungen bremste. Den internationalen Terrorismus konnte sie nicht verhindern. Die Anschläge auf die Türme in New York und gegen das Pentagon benutzte die NSA zu einer nicht für möglich gehaltenen weltweiten Ausweitung ihrer Kompetenzen unter der rechtfertigenden Überschrift der Bekämpfung des Terrorismus.

Egon Bahr über den Neuanfang 1945 und die Lektüre des alten "Neuen Deutschland"

Am 19. August starb Egon Bahr. 2006 traf sich Carsten Hübner für einen Film über die Geschichte des »Neuen Deutschland« mit dem SPD-Politiker. Ein Großteil des Gesprächs ist bisher unveröffentlicht geblieben.

Bahr hatte nach dem Zweiten Weltkrieg bei der »Berliner Zeitung« als Journalist angefangen und erzählte rückblickend über die Anfangszeit: »Die ersten Zeitungen wurden, egal, von wem sie kamen, den Leuten aus der Hand gerissen und waren im Grunde Informations- und Mitteilungsblätter über die ganz wichtige Frage: Wie ist die nächste Zuteilung?« Es habe eine Stimmung geherrscht nach dem Motto: »Wir wollen nur überleben. Und wenn es denn irgend möglich wäre, dafür sorgen, dass wir Pappe vor die Fenster kriegen und vielleicht ein trockenes Zuhause. Und vielleicht, wenn es noch hoch kommt, ein bisschen Brennstoff, um eine warme Stube zu haben. Das heißt, ganz existenzielle Überlebensfragen waren beherrschend - und dafür waren die Zeitungen, wer immer sie machte, wo immer sie herkamen, willkommen. Ich weiß, wie schwierig es gewesen ist, überhaupt zu garantieren, ob die regelmäßig erschienen. Was heißt regelmäßig? Doch nicht jeden Tag, aber jedenfalls zweimal in der Woche.«

Die erste Ausgabe der »Berliner Zeitung« war am 21. Mai 1945 erschienen - mit der Schlagzeile »Berlin lebt auf« und vier Seiten. Das Blatt kostete damals 10 Pfennig, Chefredakteur war zunächst der sowjetische Oberst Alexander Kirsanow, die Zeitung kam in einer kleinen Druckerei in der Kreuzberger Urbanstraße auf Papier. Kirsanow wurde dann von Rudolf Herrnstadt abgelöst, einem späteren Chefredakteur des »Neuen Deutschland«.

Egon Bahr: »Er war das, was man einen scharfen, strengen Mann nannte. Ich habe ihn nur ein paarmal gesehen, oder zweimal außerdem gesprochen persönlich. Und er machte den Eindruck eines brillanten Intellekts, scharfsinnig, redegewandt und einen im Übrigen menschlich kalten Eindruck. Aber das kann an der sporadischen Begegnung gelegen haben. (…) Herrnstadt hatte mich zu einer Reportage verdonnert, weil das, was ich schrieb, so ein bisschen abstrakt oder theoretisch sei, und er wollte nun mal das richtige Leben ausprobieren. Jedenfalls ausprobieren, ob ich es schreiben könnte.« Heraus kam ein »Elaborat«, so Bahr: »Es dampfte förmlich von Schweiß und Arbeit und Lärm. Das las er sich durch und sagte, ja, so ist das Leben. Und da wusste ich, das ist nicht der Ort, wo ich länger bleiben würde.«

Als Vordenker der Ostpolitik und Berater von Willy Brandt hatte Bahr dann auch mit dem »Neuen Deutschland« zu tun. Gelesen hat der SPD-Politiker die Zeitung allenfalls aus beruflichen Gründen. Er erinnerte sich: »Das ND war das Sprachrohr, Verlautbarungsorgan. Eine eigene Meinung, eine unabhängige interessante Meinung hat man dem nicht entnehmen können. Man hat nur in solchen Tagen, wie bei den Verhandlungen über die Passierscheine, jeden Morgen gelesen, ob bestimmte Formulierungen auf bestimmte Absichten oder bestimmte Punkte hinweisen, die in den Gesprächen (zwischen der DDR und der Bundesrepublik, Anm. d. Red.) eine Rolle spielten, nicht drin waren, oder anders waren. Ansonsten war es ganz uninteressant - Pflichtlektüre für diejenigen, die es mussten. (…) Das Bundespresseamt hatte ja eine Auswertung der gesamten Ostpresse, nicht nur DDR, sondern darüber hinaus, und das wurde einem vorgelegt und das ersetzte viele Stunden schrecklicher Lektüre.« nd

Im nd-Shop ist noch eine Rest-Edition von 100 Exemplaren des Films von Carsten Hübner über die Geschichte von »Neues Deutschland« erhältlich.

Für die erste internationale Konferenz im Auftrag der Vereinten Nationen, an der auch Moskau sich beteiligte, hatte ihr Vorsitzender, Olof Palme, mich gebeten, zu dem Thema Sicherheit im atomaren Zeitalter nachzudenken. Das begann ich und kam zu einem beunruhigenden Ergebnis, das allen gängigen Regeln zuwiderlief. Wenn es denn richtig war, dass West wie Ost über die atomare Zweitschlagsfähigkeit verfügten, also beide ganz unberechenbar und unannehmbar Schlägen ausgesetzt wären, würde die klassische Hoffnung auf Sieg im Krieg sinnlos werden. Wer zuerst schlägt, stirbt als Zweiter, setzt die verrückte Bereitschaft zum eigenen Ende voraus. Mit anderen Worten: Die Theorie der Abschreckung war eine nicht verwendbare Theorie geworden. Praktisch bedeutete das, dass Sicherheit voreinander nur noch stimmte, solange sie nicht erprobt wurde. Die abstrakte Konsequenz hieß dann also: Sicherheit voreinander muss durch Sicherheit miteinander ersetzt werden. Das empfand ich als so revolutionär, dass ich beschloss, es dem unbestechlichen Gehirn von Carl Friedrich von Weizsäcker vorzulegen. Sein Test würde entscheiden.

Die Antwort kam schnell. Meine Überlegungen hätten nur den Fehler, dass sie nicht von ihm kämen. Also schickte ich Olof Palme meine Antwort unter der Überschrift: Gemeinsame Sicherheit. Das wurde die Überschrift des Palme-Berichts an den Generalsekretär der UN.

Eine kleine Geschichte möchte ich anfügen. Nach jeder Sitzung traf ich das sowjetische Mitglied Juri Arbatov, um die inneren Angelegenheiten unserer Staaten zu besprechen. Ich weiß noch, dass es in London war, als Arbatov von einem Menschen in Moskau berichtete, den wir in Westeuropa als »Hoffnungsträger« bezeichnen würden, und nannte den Namen Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Auf meine Frage, was der mache, entgegnete er, der sei für Landwirtschaft zuständig. Worauf ich sofort beschloss, den Namen zu vergessen; denn niemand in Deutschland, der für Landwirtschaft zuständig war, würde politischer Hoffnungsträger sein. Als ich Gorbatschow begegnete, nachdem er zum ersten Mann im Kreml geworden war, war ich frappiert, mit welcher Sicherheit er Positionen der Palme-Kommission entwickelte. Es war ein Genuss, statt langer Monologe im Kreml einen Dialog im Pingpongstil zu erleben. In 20 Minuten hatten wir den gesamten Komplex der Außen- und Sicherheitspolitik und der Rüstungsbegrenzung abgehakt, und auf meine Fragen nach der Innenpolitik gewann ich den Eindruck: dafür hatte er kein Programm, sondern zwei Orientierungslinien, Perestroika und Glasnost. Arbatov erläuterte, er hätte mir doch in London berichtet und mit seinem Freund Gorbatschow jede Sitzung der Kommission beraten. Das sei inzwischen geistiges Eigentum des Generalsekretärs geworden und hätte ihm seine unverlierbare Position im 20. Jahrhundert eingebracht, die bedeutendste Vereinbarung zur Abschaffung der Mittelstreckenraketen und die größte konventionelle Rüstungsbegrenzung in der Geschichte bewirkt zu haben.

Ich mache einen großen Zeitsprung zum Frühjahr des Jahres 2008. Da hatte eine sicherheitspolitische und überparteiliche Elite mit den Namen Kissinger, Shultz, Perry und Nunn dem nächsten Präsidenten eine neue US-Politik in Richtung einer atomwaffenfreien Welt vorgeschlagen. In Deutschland hatten vier Menschen mit Namen von Weizsäcker, Schmidt, Genscher und ich diese Linie unterstützt und angemerkt, dass auch die amerikanischen Pläne für Raketenabwehr in Polen berücksichtigt und die immer noch 20 US-amerikanischen Atombomben in Deutschland abgeschafft werden sollten.

2009 machte der neue Präsident Obama deutlich: Einerseits strebe er die amerikanische Bereitschaft zu einer Welt ohne Atomwaffen an, andererseits gab er zu, dass die Politik von der Realität überholt worden sei und die Risiken eines atomaren Angriffs gestiegen seien. »Wenn wir glauben, dass die Verbreitung von Nuklearwaffen nicht vermeidbar ist, dann geben wir vor uns selber zu, dass der Einsatz von Kernwaffen unvermeidbar ist.« Mit dieser unbestreitbaren Logik hatten die USA ihre atomaren Fähigkeiten weiterentwickelt, was 2015 immer noch gilt und durch die neuen Atommächte noch komplizierter geworden ist.

Ganz nüchtern bedeutet das: In den 45 Jahren seit der Veröffentlichung der »Gemeinsamen Sicherheit« ist die Theorie der Abschreckung lebendig geblieben, obgleich nicht anwendbar. (...) Auf unserem alten Kontinent waren wir schon einmal 1997 so weit, durch einen gemeinsamen NATO-Russland-Rat ein wichtiges Element gemeinsamer Sicherheit zu beschließen. Heute wären wir froh, wenn daraus ein Stück gemeinsamer Information friedenssichernd wiederhergestellt würde.

Die Analyse zeigt eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen Kennedy und Chruschtschow auf der einen und Obama und Putin auf der anderen Seite. Es sollte keinen Krieg zwischen ihnen geben: Weder Berlin, Deutschland noch Europa seien angesichts gemeinsamer geostrategischer Probleme das wert. Das wurde die Grundlage eines stabilen Status quo, Frieden trotz Kubakrise, während die Deutschen unterhalb der unkündbaren Siegerrechte ihre Interessen entwickelten, was zur deutschen Einheit führte.

Zwischen Obama und Putin gibt es ein vergleichbares Verständnis: kein Krieg zwischen uns. Weder die Ukraine noch gar die Krim seien es wert, angesichts der geostrategischen Probleme, die nur durch gemeinsame Beteiligung lösbar seien. Diese geostrategischen Gebiete sind sich erstaunlich ähnlich geblieben: Syrien, Israel, Irak, Iran, Afghanistan und der Weltraum. Beim Weltraum hilft Moskau sofort. Fünf Tage nach der Explosion einer US-Rakete bis zum Start einer russischen Nachschubrakete bedeutet praktisch: sofort.

Für unseren alten Kontinent haben die letzten Jahre ergeben, dass ohne die politische Beteiligung mindestens Deutschlands und Frankreichs eine Regelung nicht denkbar geworden ist und ohne die Mitwirkung der OSZE dafür nicht realisierbar wäre. Bleiben die beiden Großen. Sie haben ihre Verantwortung der Wirklichkeit entsprechend durch die Kontakte zwischen Obama und Putin und ihren Außenministern deutlich gemacht. (...)

Daneben haben wir es mit dem persönlich gespannten Verhältnis zu tun, nachdem Obama Russland als Regionalmacht bezeichnet hat, was für Putin absolut unannehmbar ist und ihn zwingt zu beweisen, dass ohne und gegen ihn keine Ukraine-Regelung möglich ist. Nach meiner Theorie war das eine freudsche Fehlleistung Obamas, der wahrscheinlich die Analyse Brzezinskis im Hinterkopf hatte, dass Russland ohne die Ukraine nur noch eine Regionalmacht wäre. Wichtiger ist, dass sie keinen Krieg führen wollen und werden. Also reduziert sich das auf eine Art von »friedlichem Krieg«. Putin ist sicher, länger Chef im Kreml zu bleiben als Obama im Weißen Haus. Diese zeitliche Perspektive zielt auf das Jahr 2017, die kürzere Perspektive darauf, das Abkommen Minsk II vollständig bis zum Ende dieses Jahres zu erfüllen, wozu die Amerikaner mehr bewirken können als die Russen. Über ein Scheitern zu spekulieren lohnt nicht.

Bleibt das einzige neue Element der geostrategischen Lage, der Islamische Staat. Dafür benutzt Obama das Wort Krieg und Putin bezeichnet sich als Verbündeten. Das ist aufregend! Es schließen sich mehr Tschetschenen und andere islamische Angehörige aller Staaten östlich Russlands bis zur chinesischen Grenze als aktive Helfer und Helferinnen dem Islamischen Staat an, als aus allen westeuropäischen Staaten dorthin gehen. Putin als der natürliche und mögliche Verbündete im Kampf gegen den Islamischen Staat ist bisher kein politischer Faktor. Es könnte aber sein, dass der gemeinsame Kampf gegen den Islamischen Staat schneller Wirklichkeit wird als die »Gemeinsame Sicherheit« durch Abschaffung aller Atomwaffen.

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