Nicht nur Proviantkolonne des Proletariats
Willi Münzenberg und die Internationale Arbeiterhilfe: Radikale Solidarität und globales Engagement. Ausblick auf eine Berliner Konferenz
Mit rund 18 Millionen Einzel- und Kollektivmitgliedern weltweit bildete die von Willi Münzenberg geformte Internationale Arbeiterhilfe in der Zwischenkriegszeit das größte globale Solidaritätsnetzwerk der Arbeiterbewegung. Bewusst überparteilich gehalten, wurde sie getragen von sozialen Bewegungen und kann als in ihren Ausdrucksformen und in ihrer Praxis auch als eine Vorgängerin heutiger Nichtregierungsorganisationen angesehen werden.
Ihren Hauptsitz hatte sie in Berlin. 1921 auf Initiative der Komintern gegründet, sollte sie ursprünglich internationale Hilfslieferungen für das von einer Hungersnot betroffene Russland koordinieren. Aus der Hungerhilfe wurde eine Wirtschaftshilfe. Neu errichtete Produktions- und Werkstätten sowie gespendete Maschinen und Traktoren gaben Hilfe zur Selbsthilfe. Im Zuge der Hyperinflation 1923 verlagerte die IAH ihren Fokus zunächst nach Deutschland und erweiterte sukzessive ihre Aufgabengebiete. Sie entwickelte sozialpolitische Programme, betrieb Suppenküchen, öffnete Kassen für streikende Arbeiter und unterhielt Kinderheime.
Er war Organisator, Medienzar, Internationalist und Kritiker des Stalinismus: Willi Münzenberg. Im September widemt sich ein Internationaler Kongress in Berlin dem Erbe des charismatischen Antifaschisten. in nd-Dossier
Zielgerichtet baute sie ein Mediengeflecht aus Verlagen, Zeitschriften und Tageszeitungen (»Welt am Abend«, »Berlin am Morgen«) auf. Ihr Aushängeschild war die Arbeiter-Illustrierte Zeitung (AIZ), die als weltweit erste »proletarische Illustrierte« in die Geschichte einging und Anfang der 1930er Jahre wöchentliche Auflagenspitzen von bis zu 500.000 Exemplaren erreicht haben soll. Mit eigenen Filmgesellschaften brachte die IAH den noch jungen sowjetischen Film ins staunende Berlin. Ihr späterer russischer Ableger Meshrabpom-Film produzierte als »rote Traumfabrik« zwischen 1918 und 1936 allein mindestens 574 Filme, von experimentellen Dokumentationen bis hin zu abendfüllenden Streifen.
Um die Öffentlichkeit zu mobilisieren, veranstaltete die IAH Solidaritätstage in mehreren Städten mit Märschen durch die Straßen und Festivals auf den Plätzen. Für sie werbend zog die Theatertruppe »Kolonne Links« übers Land. Matineen, Kongresse, aber auch der Einsatz von Filmvorführwägen prägten die politische Kultur der Weimarer Republik. In der Rückschau würden die »Goldenen Zwanziger Jahre« ohne diesen Aktivismus weit weniger glänzen. Es war Münzenbergs besonderem organisatorischen Talent zu verdanken, zahlreiche prominente Künstler und namhafte Intellektuelle über Künstlerinitiativen und Freundesgesellschaften an die sozialen Projekte der IAH zu binden.
Der von der IAH entwickelten Solidaritätskultur ging es nicht darum, Wohltätigkeit gegenüber als passiv begriffenen Opfern gesellschaftlicher Umstände zu üben. Marginalisierte sollten stattdessen emanzipiert und von der Idee einer »Klassensolidarität« überzeugt werden. Nur gemeinsam könne die Welt verändert werden, wobei die IAH als »Proviantkolonne des Proletariats« fungieren wollte. Ihr Motto lautete »Die Solidarität hilft die Welt befreien«.
Entsprechend richtete die IAH ihr Engagement auch global aus. Internationale Solidarität habe sich zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West zu erweisen. Krieg, Unterdrückung und sozialen Verwerfungen des Kapitalismus wurde eine transnational verstandene radikale Solidarität entgegengesetzt. Die IAH unterhielt Sektionen in Polen und der Schweiz, genauso wie in Südamerika und Indien. Zum »Weltkongress« 1931 reisten Delegierte aus 40 Ländern an. In Berichten und auf avantgardistisch gestalteten Titelbildern unterstützte die AIZ antikoloniale Befreiungsbewegungen. Sie diskutierte die »Negerfrage« in den USA, informierte über revolutionäre Unruhen in China und warnte schon früh vor den Gefahren des deutschen und internationalen Faschismus.
Scheinbar lokale, regionale oder nationale soziale Probleme, Streiks oder humanitäre Krisen wurden als Teil einer Weltpolitik begriffen, die im Namen der Solidarität rund um den Globus Antworten der Arbeiterbewegung einfordern würde. Mit ihren Kampagnen ermutigten die IAH und ihr Generalsekretär Willi Münzenberg, »lokal zu handeln und global zu denken«. Kämpfe in entfernten Kolonien seien ebenso wie soziale Konflikte in den Nachbarländern untrennbar mit eigenen Zukunftsperspektiven verknüpft.
Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten wurden 1933 die Einrichtungen der IAH in Deutschland besetzt. Während Münzenberg von Paris aus versuchte, die Arbeit durch das »Welthilfskomitee für die Opfer des Hitler-Faschismus« fortzusetzen, entzog man den übrig gebliebenen Einrichtungen der IAH 1935 in der Sowjetunion seiner Kontrolle. Sie wurden verstaatlicht oder eingestellt, der Internationale Verbund aufgelöst.
Die Autoren gehören dem Organisationskomitee des Willi-Münzenberg-Kongresses an. Von Kasper Braskén ist jüngst erschienen: The International Workers' Relief, Communism, and Transnational Solidarity: Willi Münzenberg in Weimar Germany (Palgrave Macmillan, 2015).
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.