Sein Name ist Aylan

Der Versuch der Rekonstruktion einer alltäglichen Tragödie

  • Fabian Köhler
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein dreijähriger Junge. Am Strand. Tot. Das Bild eines ertrunkenen syrischen Kleinkindes bewegt die Welt. Die Geschichte dahinter ist mindestens genauso bewegend. Der Versuch einer Rekonstruktion.

Es ist ein Foto von der Art, wie es jeder, der Kinder hat, dutzendfach im Handy gespeichert hat: Zwei lachende kleine Jungs sitzen da auf einer Couch. Zwischen ihnen ein gelber Teddybär in rosafarbenem Kleid. Das Foto hätte es wohl nie an die Öffentlichkeit geschafft, gäbe es nicht auch dieses andere Foto. Das vom kleinen syrischen Flüchtlingsjungen mit dem roten Hemd und der blauen Hose. Leblos angeschwemmt an einen türkischen Strand. Ertrunken nur wenige Kilometer vor dem rettenden Ufer. Das Foto einer alltäglichen Tragödie, ein Symbol des europäischen Versagens in der Flüchtlingskrise.

Der Mensch hinter dem Symbol heißt Aylan Kurdi. Der Dreijährige starb am Mittwochmorgen auf der Fahrt vom türkischen Bodrum in Richtung der griechischen Insel Kos. Mit ihm starben auch sein fünfjähriger Bruder Galip und seine 35-jährige Mutter Rehan. Nur ihr Vater Abdullah überlebte die Flucht, die vor knapp einem Jahr begann. Mehrere arabische Medien berichten übereinstimmend, dass die Kurdis aus Kobane stammten, jener syrisch-kurdischen Stadt, die lange vom Krieg verschont blieb, bis die Granaten des selbsternannten Islamischen Staates auch hier einschlugen.

Wenig ist bisher bekannt über das Privatleben der Kurdis: Vater Abdullah arbeitete als Friseur in Damaskus. Aylan soll Fan des Fußballers Christiano Ronaldo gewesen sein, liest man auf Twitter. Wie Tausende andere flohen die Kurdis vor knapp einem Jahr in die Türkei. Die Lebensbedingungen für die Familie, die wie viele andere Kurden keine Pässe besitzt, sind dort noch katastrophaler als für syrische Flüchtlinge ohnehin schon. Die Hoffnung der Familie: Verwandte in Kanada.

»Ich habe versucht, sie zu unterstützen ... Ich habe ihnen sogar die Miete in der Türkei bezahlt«, berichtet Teema Kurdi gegenüber den Reportern der kanadischen Tageszeitung »National Post«. Vor über 20 Jahren wanderte die Schwester von Abdullah Kurdi ins kanadische Vancouver aus. Gemeinsam mit Freunden und Nachbarn, so erzählt sie, habe sie Geld gesammelt, die nötigen Sicherheiten bei der Bank hinterlegt und Behördengänge erledigt, um die Familie nach Kanada zu holen.

Das Programm, mit dem dies die kanadische Regierung zumindest in der Theorie ermöglicht, nennt sich »G5« und entspricht etwa dem, was in Deutschland »Verpflichtungserklärung« heißt. Der Deal: Die Kurdis dürfen nach Kanada einreisen, wenn mindestens fünf kanadische Staatsbürger sich verpflichten, ein Jahr lange für sämtliche Kosten der Flüchtlinge aufzukommen. Der Haken: Die Regelung gilt nur für Syrer, deren Flüchtlingsstatus vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR anerkannt wurde. Doch wie zehntausende andere Kurden genießen die Kurdis in Syrien keine Staatsbürgerschaft. Um separatistischen Bestrebungen zuvorzukommen, erklärte Hafez Al-Assad, der Vater des jetzigen Präsidenten, die Kurden des Landes schon vor Jahrzehnten zu Staatenlosen. Doch ohne Pass ist der Antrag auf Flüchtlingsstatus bei der UNHCR ungleich schwerer. Im Juni dieses Jahres bekommt Teema Kurdi die ernüchternde Mitteilung des kanadische Innenministerium: abgelehnt.

Es soll nicht ihr erster Versuch gewesen sein, als die Kurdis an diesem Mittwoch versuchen, per Boot von Bodrum aus nach Griechenland zu gelangen. Es ist eine der vielen Kulissen, an denen syrische und europäische Realität aufeinander treffen. Tagsüber schwimmen in dem türkischen Badeort die Touristen, nachts schwemmen die Wellen Kleidungsstücke und die Überreste von Schlauchbooten an den Strand.

Akyarlar heißt das 3000-Einwohner-Dorf, vom dem aus es nur noch fünf Kilometer bis zur griechischen Insel Kos sind. Fährunternehmen bieten hier Fahrten für 20 Euro pro Person an. Kinder unter sechs fahren kostenlos. Die Fahrt dauert nur wenige Minuten. Für Europäer. Irgendwann am frühen Mittwochmorgen besteigen die Kurdis eins von zwei kleinen Schlauchbooten. Maximal zehn Menschen passen dort hinein. Ein Überlebender berichtet gegenüber einem BBC-Reporter, 17 Personen hätten in einem Boot gesessen.

4000 Euro soll die Familie für die fünf Kilometer kurze Fahrt bezahlt haben, berichtet der Dubaier Fernsehsender Alaan-TV. Das Wetter sei schlechter geworden gewesen, erzählt die Fernseh-Moderatorin. Die türkischen Schleuser hätten das Bot verlassen. Nach rund einer Stunde kentert das Boot. Auf Twitter schreibt die libanesische, in der arabischen Welt recht bekannte Journalistin Jenan Moussa, Abdullah habe noch versucht, seine beiden Kinder und seine Frau festzuhalten: »Aber einer nach dem anderen wurden sie von den Wellen davongerissen«. Drei Stunden später erreicht die griechische Küstenwache den Unglücksort. Sie können nur noch Vater Abdullah retten.

Am Stand von Bodrum, rund 20 Kilometer vom Ablegeort entfernt, entdeckt ein Fischer gegen sechs Uhr morgens die ersten Leichen. »Ich ging zum Meer und ich erschrak. Mein Herz ist gebrochen«, sagte er gegenüber der BBC. Kurz darauf kommt die türkische Polizei. Neben den Brüdern Aylan und Galip sowie Mutter Rehan zählen sie neun weitere Leichen. Unter ihnen ingesamt fünf Kinder. Neun weitere Menschen werden noch vermisst, vermutlich sind auch sie tot.

Ein Polizist macht schließlich das Foto von Aylan, das nun um die Welt geht. Sein Bruder liegt nur wenige Meter von ihm entfernt, auch von ihm gibt es ein Foto: ausgestreckt mit blauer Hose und Shirt auf dem Rücken liegend, den Kopf zum Wasser gedreht, als würde er die Wellen beobachten. Videoaufnahmen zeigen, wie ein Polizist Aylan auf seinen Armen davonträgt, zärtlich, als halte er ein schlafendes Baby im Arm. Der Rest ist Mediengeschichte:

Aus dem Leichenschauhaus von Bodrum beschreiben Journalisten der türkischen Nachrichtenagentur Dogan die Szene: Angehörige der Jungs, die weinend zusammenbrechen. Bilder der syrische Mutter Zeinab Hadi, die beim selben Unglück ihre beiden 8- und 11-jährigen Kinder verlor. Auf Twitter wird #KiyiyaVuranInsanlik (in etwa: die fortgespülte Menschlichkeit) zum meistgenutzten Hashtag. Am Donnerstag machen die britischen Zeitungen The Sun, The Independent und The Guardian mit dem Foto Aylans auf. Die BILD-Zeitung macht ihre Rückseite zur anklagenden Traueranzeige.

Und im Netz erscheinen immer neue Fotos der Kurdis: Abdullah mit seinen beiden Söhnen an der Hand in einem Garten. Aylan beim Fußballspielen. In den nächsten Tagen will Vater Abdullah mit seiner Familie nach Kobane zurückkehren. Gegenüber der »National Post« berichtet seine Schwester von ihrem letzten Telefonat und dem letzten Wunsch ihres Bruders: seine Familie in Kobane zu beerdigen, um dann selbst neben ihnen beerdigt zu werden.

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