Auf der Suche nach einer Zukunft

Alexander Ilitschewskis großer Gesellschaftsroman »Matisse«

  • Karlheinz Kasper
  • Lesedauer: 4 Min.

Seltsame Menschen tauchen in den 1990er Jahren im Stadtbild von Moskau auf. Sie hausen im Untergrund, auf Bahnhöfen, unter Brücken, in der Kanalisation, auf Müllhalden oder in Treppenhäusern und bekriegen sich mit den Straßenkindern. Vorher hatte man solche Typen im Kino oder Theater gesehen, etwa in Gorkis »Nachtasyl«. Schnell prägt die Sprache für diese Menschen ohne Arbeit und festen Wohnsitz ein neues Wort - »bomshi«. Zwei von ihnen rückt Ilitschewski ins Blickfeld des Lesers - Wadja und Nadja. Die Kurzform der Namen zeigt an, dass die beiden in den Augen der Öffentlichkeit Nullgrößen sind. Dabei ist Wadja phantasiebegabt, kann sich zwei Lebensläufe ausdenken, kennt die Lieder Wyssozkis, träumt von einer »Revolte«, ist noch als Penner ein Poet. Nadja hingegen ist wortkarg, beinahe stumm, aber ein Engel, hat Mitleid mit allem Kreatürlichen und Sinn für das Schöne. Sie gehört zu den Russen, die man nach der Wende aus Aserbaidschan vertrieben hat. Nadja findet auf einem Dachboden einen Bildband von Henri Matisse mit dem »Offenen Fenster« von 1905; er wird ihre »Ikone«, von der sie sich nicht mehr trennt.

Der Protagonist des Romans aber ist Leonid Koroljow. Er hätte ein »king« werden können. Nicht nur, weil sein Name von »korol’« kommt und an den berühmten sowjetischen Raketenkonstrukteur und Weltraumpionier erinnert. Obwohl Leonid seine Eltern nicht kennt und in Internaten und Studentenheimen aufwächst, entwickelt er eine so außergewöhnliche Begabung für Mathematik und Physik, dass er in einem der frühen Romane Granins sicher ein Himmelsstürmer geworden wäre. Die Theoretische Physik ist für ihn ein Fach, dessen bloße Existenz als Beweis dafür gilt, dass »das Dasein nicht sinnlos« ist.

Doch Koroljows Generation, um 1970 geboren, besitzt so gut wie keine Chance, ihr Talent in die Tat umzusetzen. Sie gerät völlig unvorbereitet in die Transformationsprozesse nach dem sang- und klanglosen Ende der UdSSR. Der Politik steht Koroljow ziemlich gleichgültig gegenüber. Seine große Liebe ist der Teilchenbeschleuniger. Als sein Betreuer ins Ausland geht und er das Wohnheim verlassen muss, gewinnt er den Eindruck, es gebe keine Zukunft mehr. Lustlos verdient er seinen Unterhalt als Computermonteur, Plakatkleber und Versicherungsagent. Freunde und Frauen verlassen ihn. Er findet Gefallen an Friedhöfen, schwärmt für die Marmorstatue eines jungen Mädchens, wird zum Sklaven eines skrupellosen neurussischen Unternehmers, für den er eine Erdölstadt in Sibirien mit Waren versorgt.

Er begreift, dass in Russland nicht der hochgelobte Kapitalismus, sondern ein Feudalsystem an die Macht gekommen ist. Hassgefühle quälen ihn. Weder der Blick ins »Kapital« noch die Verführung der Unternehmertochter schaffen Erleichterung. Träume von der Kindheit, Erinnerungen an erste Geruchs- und Geschmackserlebnisse künden von einer anderen Welt.

Bevor er seine Wohnungsschlüssel ins Wasser wirft, bereitet sich Koroljow zielstrebig auf den Ausstieg aus der Gesellschaft vor, nächtigt probeweise in Baubuden, leerstehenden Häusern, im sagenumwobenen Labyrinth der Metro-2. Mehrfach träumt er von Matisse, und diese Träume zeugen den Plan, nach dem »Süden« aufzubrechen, der ihm als eine Vision von Israel erscheint. Er überredet Wadja und Nadja, ihn zu begleiten. Weit kommen die drei Vagabunden nicht. Das Romanende umspielt metaphorisch Farbe und Licht, die dominierenden Elemente der Bildkunst von Henri Matisse, die sich symbolisch in einem Kugelblitz bündeln, der einen »Kurs Richtung Sonne« einschlägt. Farbe und Licht bilden das Gegengewicht zu den Schwarz- und Grautönen im Russland der 1990er Jahre, in dem die Angst vor der Zukunft regiert.

Ilitschewski neigt nicht dazu, dem Leser glückliche Ausgänge zu präsentieren. Mit einer ausgeprägten Lust zum Philosophieren, beispielsweise über die Metaphysik des Raums und das Phänomen der Unbehaustheit, zwingt er ihn dazu, sich ein eigenes Bild vom Zustand der Welt zu machen. 1970 im aserbaidschanischen Sumgait geboren, studierte der Autor in Moskau Mathematik und Theoretische Physik und arbeitete von 1991 bis 1998 in Kalifornien und Israel. Wieder in Russland, trat er mit Gedichten, Essays, Erzählungen und großen Gesellschaftsromanen hervor, die ein schonungsloses Bild der russischen Umbruchzeit zeichnen. Seit 2013 lebt er in Israel.

Ilitschewskis Hauptwerk ist eine Tetralogie, die aus den Romanen »Matisse« (2006; russischer Bookerpreis), »Der Perser« (2009; Literaturpreis »Das große Buch«), »Der Mathematiker« (2011) und »Anarchisten« (2012) besteht. In jedem von ihnen hat der Autor mit dem Bild der erdölreichen aserbaidschanischen Halbinsel Apscheron seine »Visitenkarte« impliziert. Alle Romane berichten in einer metaphernreichen, nicht linearen, frei mäandernden Erzählweise von Unbehausten und Aussteigern, die aufbrechen, um ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, und unaufhörlich auf der Suche sind.

Alexander Ilitschewski: Matisse. Roman. Aus dem Russischen von Valerie Engler und Friederike Meltendorf. Matthes & Seitz. 432 S., geb., 26,90 €.

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