Der große Lastenausgleich
Die Flüchtlingsbewegungen zeigen, ein großer Lastenausgleich zwischen Norden und Süden ist unabwendbar geworden. Deshalb muss der ungeheure private Reichtum wieder auf die Tagesordnung kommen, meint Wolfgang Storz
Die öffentliche Stimmung gegenüber den Flüchtlingen ist positiv, die Willkommenskultur in der Überhand, ein riesiger Fortschritt gegenüber den 1990er Jahren.
Was diesen Fortschritt nicht schmälern soll, aber registriert werden muss: Der Wandel der Einstellungen fällt leichter, wenn die Arbeitslosigkeit vergleichsweise gering und der Bedarf der Unternehmen an möglichst jungen und leistungsfähigen Arbeitskräften beträchtlich ist. Wer die Zitate von manchen Spitzenmanagern liest, der kann den Eindruck gewinnen, in dem Flüchtlingselend stecke ein Jungbrunnen für die deutsche Wirtschaft.
Dieter Zetsche, Daimler-Vorstandsvorsitzender, laut »Handelsblatt«: »Die meisten Flüchtlinge sind jung, gut ausgebildet und hochmotiviert.« Der Konzernchef der Deutschen Post, Frank Appel, verweist auf eine halbe Million offener Stellen und meint: »Wenn Flüchtlinge rasch Arbeitsbewilligungen erhalten, dann können deutsche Unternehmen wie Deutsche Post DHL Group dieses Potenzial nutzen.« Andere Manager fordern Haltung gegen den Extremismus und sehen diese Perspektive: »Wir brauchen in den nächsten 20 Jahren viel mehr Arbeitskräfte, als dieses Land hervorbringen wird«, so Arbeitgeber-Präsident Ingo Kramer.
Das klingt, als gehe es nicht um die gute Versorgung und Integration von Elendsflüchtlingen, sondern um Investitionen in die gute Zukunft des Landes. Die Frage, wer bezahlt, rückt nun in den Vordergrund. Eine finanzielle Herausforderung, die nach Einschätzung von Boris Palmer, grüner Oberbürgermeister von Tübingen, und Jens Spahn, christdemokratischer Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Deutschland alles andere als überfordert. In einem Text für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« halten sie fest: »Die aktuelle Flüchtlingskrise wird weniger als ein Prozent unserer Wirtschaftskraft beanspruchen. Wahrlich nicht zu viel, um Hunderttausenden Hoffnung und Perspektive zu geben. Richtig gemacht, ergibt sich daraus auch eine ganz neue Perspektive für unser Land.« Also am Ende sogar so eine Art Win-Win-Situation.
Wenn das so ist, dann könnten die hier Regierenden auch mit all dieser Kraft den entscheidenden Punkt anpacken, der weit über die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen hinausgeht: Wer kann was wo investieren, damit die Menschen - abgesehen aus Kriegsgebieten, da bedarf es anderer Lösungen - nicht mehr vor Elend, Hunger und Trostlosigkeit nach Westeuropa flüchten müssen. Also dort investieren, wo die Ursachen für das Elend der Flüchtlinge liegen, ob in Niger, dem Sudan oder auf dem Balkan. Dafür bedarf es einer mit den dort amtierenden Regierungen abgestimmte und transparente Investitionspolitik, damit Nachhaltiges mit den Geldern angestellt wird.
Aber zuerst muss geklärt werden: Woher kommen die Investitionsmittel? Wir sollten auf ein altes Thema zurückkommen. Was im öffentlichen Bewusstsein seit dem Bundestagswahlkampf 2013 als Thema nicht mehr präsent ist und nun wieder auf die Tagesordnung gehört: Seit Jahren verkörpern die Privatvermögenden die eigentliche Wachstumsbranche dieser Nation. Vermögen und Einkommen sind inzwischen extrem ungleich verteilt. Die Abstände werden täglich größer. Und: Deutschland ist eine Erben-Gesellschaft. Von 2000 bis 2020 wurden und werden in Gänze privatrechtlich 5,7 Billionen Euro vererbt, mehr als die Hälfte des deutschen Gesamtvermögens. Zur Erinnerung: Wir haben faktisch keine Vermögenssteuer, eine geringe Erbschaftssteuer, eine geringe Steuer auf Kapitaleinkünfte, einen im internationalen Vergleich geringen Spitzensteuersatz.
Aus dem vergangenen Bundestags-Wahlkampf zogen ausgerechnet diejenigen entmutigt von dannen, die versucht hatten, den Reichtum zu thematisieren: Die Grünen verloren kräftig, auch wegen ihrer Steuererhöhungsvorschläge für die oberen zehn Prozent, die SPD knickte ein und zog vergleichbare Forderungen drei Wochen vor der Wahl aus dem Verkehr, die Partei Die LINKE reüssierte mit ihrer Millionärssteuer nicht erkennbar.
Jetzt, da die Flüchtlingsbewegungen zeigen, ein großer Lastenausgleich zwischen Norden und Süden ist unabwendbar geworden, ist es Zeit, das Thema des ungeheuren privaten Reichtums nach vorne zu rücken und die Vorschläge aus dem Jahr 2013 aus den Archiven oder Papierkörben zu holen.
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