Ein episches Jahrmarktstreiben

»Brecht Auf!«-Spektakel an der Neuen Bühne Senftenberg

  • Stefan Amzoll
  • Lesedauer: 5 Min.

Sein Material scheint vergraben wie die Toten, die achtlos beerdigt wurden. Nun graben es Bühnen wieder aus. Brecht lebt? Hunderte Erlebnisparks florieren, »Disney«, »Hansa« und dergleichen, noch mehr Zirkusse, wo Tiere und Clowns wie ihnen befohlen herumturnen, und die Kinderwelt amüsiert sich. Sodann Freiluftbühnen, auf denen zum x-ten Mal »Störtebecker,« »Hannibal« oder »Barbarossa« kommen und die Leute hinströmen. Schließlich Bühnen, geistig so ärmlich, dass sie der billigen Unterhaltung frönen, weil die mehr Leute locken würden, zu Schweigen von den Tiefständen der TV-Unterhaltung.

Brecht lebt? In Senftenberg gewiss. »Brecht Auf!«, das jetzt kam und noch mehrmals kommen wird, ist ein Fanal. Wenn es Schule machte, pflügte es die Landschaft um. Die Neue Bühne der Bergarbeiterstadt hat diesen prägnanten Theatertag ideenreich kreiert. Das Wörtchen »Auf« steht mit im Titel, was nicht überrascht. Es drückt Achtung vor dem bereits Errungenen aus und Kontinuität. Denn es weist auf das frühere »Glück Auf!«-Fest, das Sewan Latchinian, als er in Senftenberg Intendant war, mit seinem Ensemble erfolgreich entwickelt hatte, ein Spektakel mit vielen Premieren, hohem Publikumszuspruch und bundesweiter Ausstrahlung. Letztmalig lief es vor zwei Jahren. Manuel Soubyrand, seit 2014 Intendant, schließt mit dem »Brecht Auf«-Fest glücklich daran an und konnte hierfür ein spielfreudiges Ensemble mit frischen Zugängen animieren. Was immer die Perioden von einander unterscheidet, eines bleibt: nämlich die Verabredung, lebendiges, vergnügliches, Nervenpunkte der herrschenden Zustände treffendes Theater zu machen. Startet dieser Tage in Rostock Latchinias »2. Stapellauf« im Volkstheater, wo er jetzt als Intendant das Mehrspartentheater vor Angriffen verteidigt, so verbreitert das solche Erfahrungen.

Manuel Soubyrand ist ein wahrhaft begeisterter Streiter für Brecht. Vom Balkon hielt er über Sprachrohr eine flammende Rede auf den größten Dichter des 20. Jahrhunderts und dessen Möglichkeiten für die Gegenwart. Viele waren gekommen und durften ein Jahrmarktstreiben ganz im Zeichen Brechts erleben. Was da alles herangeschafft wurde: an Zelten und Buden befestigtes Papier und Gekrakel, des Dichters Zettelwirtschaft, Fotos, Plakate, Handschriften, Skizzenblätter und Zeichnungen; Notate zieren Entres, Foyers, Kantine, Kaffeestube. Aus einer Ecke schnarrt Brechts Gesang der »Moritat von Mackie Messer«. Dem Jahrmarkt einverleibt sind diverse schauspielerische Kapriolen. Ausrufer, Ulenspiegel gleich, schleudern unflätigen, bösen, erotischen Ramsch aus der Feder des frühen Brechts in die Menge. Wolf Biermann steht kurioserweise in Begleitung mittendrin, und niemand beachtet ihn.

Mit »Mutter Courage und ihre Kinder« in der Fassung von Johanna Schall mit der Musik von Paul Dessau eröffnete das Fest. Parallel liefen abends »Die Kleinbürgerhochzeit«, »Baal«, »Hannibal«, »Lux in Tenebris«, allesamt Stücke der Frühperiode. Manuel Soubyrand inszenierte die »Courage« temposcharf. Wie elektrisiert die jungen Ausrufer, zwei Männer, eine Frau, mit ihren Masken, koddrigen Mündern und abgerissenen Klamotten (Kostüme Jenny Schall). Ungestüm preschen sie nach vorn und vermelden den Stand des Kriegsgeschehens. Geschichtlicher Rahmen ist der Dreißigjährige Krieg. Die Bühne ist karg wie zu Zeiten der Helene Weigel, als sie - Brecht lebte noch - den Wagen der Courage mit Proviant für die Soldaten zog. Ein Stahlgerüst links, in der Mitte nach hinten führend eine Rutschbahn, geeignet, das Tempo der Aktionen zu beschleunigen. Kaum jemandes Arsch, der darauf nicht Schlitten fährt. Das Gefährt der Courage, ein bläulich-rostiger Kleintransporter vom Autofriedhof, ist Transportmittel und zugleich Behausung. Unzählige der Sorte hat die heutige Welt. Anita Iselin spielt die Courage so intensiv und sprachlich gewitzt, so beweglich und über alle Maßen poetisch, dass die Sinne förmlich an ihrer Gestalt festkleben. Sie trägt einen schäbigen Anorak mit pelzbesetzter Kapuze, am Gürtel zwei abgewetzte Ledertaschen, festes Schuhwerk an den Füßen, als wäre sie ein Geschäftsmann. Resolut ihr Auftreten. Der Handel mit den Soldaten blüht. Aber der Krieg wird zur Landplage mit all dem Gift, das menschliche Substanz vernichtet, was auch die Courage, ihre Kinder und die Übrigen schlucken müssen. Zwangsläufig geht ihr Geschäft zugrunde. Anita Iselin, ihr »Courage-Lied« geht wahrlich unter die Haut, zeichnet den bogenförmigen Verfall der Figur bis in die letzten Verästelungen. In die Mühlen des Krieges gezerrt, sterben ihre Söhne (Sebastian Volk, Tom Bartels), Opfer am Ende selbst ihre unschuldige stumme Tochter Kattrin (Marlene Hoffmann). Herausragend sodann der Koch des Heinz Klevenow. Wann immer der alte, weise liebenswürdige Kerl vor die Courage tritt, es ergehen Anstrengungen des Menschlichen an das Publikum.

Roland Kurzweg gibt den Typ des Feldpredigers. Moralisch ziemlich verrottet der dürre Kerl. Von Ängsten geplagt, geht er mehr schleichend als aufrecht. Sein Versteck vor dem Bösen ist das Auto. Der Courage dient er beflissen, solange es um eigene Belange geht. Nun, wie das Klerikern nachgesagt wird, er wechselt schnell die Kleider, nahen die Kanonen der Gegenseite. Kurzweg als Pfaffe hisst den bleichen Fetzen Fahne im rechten Moment auf das Autodach.

Kai Festersen, er inszenierte den »Baal«, lässt vier Youngster, drei Männer, eine Frau, das Stück zu ebener Erde spielen. Außer Baal geben die anderen mehrere Rollen. Ein fulminantes Tableau. Mikro mit Lautsprecher und Steuergerät sind Spielelemente. Alle vier schreien aufs Wildeste die Introduktion ins Mikro. Rohe Geräusche grundieren die Bildansagen. Fortan rotiert die Stange wie der Staffelstab. Baal, der böse, unzüchtige, kriminelle Anarchotyp wälzt sich mit dem Gerät am Boden und haucht der flach liegenden Marie dunkle Naturlyrik ins Ohr. Irre, hochpoetische Verse lassen die Knie der Weiber weich werden. Baal küsst nicht, er leckt. Er scheißt auf etwas wie Liebe. Ist es getan, wirft er die Schenkel der Sophie weg und geht ihr an den Hals. Grotesk die Spießerwelt auf vier Stühlen, schweinsköpfig maskiert. Sie lobt nachgerade des Burschen raue Poesie, was Baal aufbringt. Eingelocht, steckt er in der Zwangsjacke. Masken mit Ku-Klux-Klan-Gewändern quälen ihn mit Wasser und Erde. Tot liegt am Ende der zornige Baal, während die Übrigen den Augiasstall auskehren. Restlos verausgabt der außerordentliche Johannes May in der Titelrolle, um ihn herum beherzt Tom Bartels, Roland Kurzweg und Hanka Mark. Ein tolles Fest. Es sollte fortgesetzt werden.

Nächster Termin: 26. September

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