Schlüssel zur Demokratisierung
Raul Zelik begründet in fünf Schritten, warum das Wahlergebnis in Katalonien für ihn aus linker Sicht zu begrüßen ist
Auch wenn viele Linke in Europa es anders interpretieren – der Wahlsieg der Unabhängigkeitsparteien bei den katalanischen Autonomiewahlen ist eine sehr gute Nachricht. Man kann das erstens negativ begründen: Der spanische Staat ist zutiefst autoritär. Unabhängigen Menschenrechtsberichten zufolge sind seit 1980 mehr als 2000 Menschen in Polizeihaft gefoltert worden. Da Justiz, Medien und nicht zuletzt auch die Mehrheit der spanischen Wähler diese Praxis decken, sind die Verbrechen ungesühnt geblieben. Zudem hat Spanien Parteien, linke Zeitungen und demokratische Referenden verboten. Vor diesem Hintergrund ist eigentlich alles begrüßenswert, was den spanischen Staat schwächt.
Zweitens ist die katalanische Unabhängigkeit die realistischste Option für eine Demokratisierung. Die 15M-Bewegung und nicht zuletzt Podemos sind angetreten, den Verfassungspakt von 1978 aufzukündigen, der einen Kompromiss mit den franquistischen Eliten darstellte und von den Drohungen der Militärs konditioniert war. Eine Reform dieses Pakts ist nur mit Zwei-Drittel-Mehrheit möglich. Die spanische Linke ist Lichtjahre von dieser Mehrheit entfernt. Das katalanische Aufbegehren ist damit die aussichtsreichste Strategie, die Verhältnisse ins Wanken zu bringen.
Drittens ist der Unabhängigkeitsprozess – zumindest bislang – mit einem Linksruck in der katalanischen Gesellschaft einhergegangen. Die spanische Linke und insbesondere Podemos wurden im Wahlkampf zwar nicht müde zu betonen, dass eine Stimme für die Unabhängigkeitsliste Junts pel Sí eine Stimme für den neoliberalen Ministerpräsidenten Artur Mas sei. Doch ganz so simpel ist die Gleichung nicht: Die Unabhängigkeitsbewegung, die Mitte der 2000er Jahre aus Empörung über die Ablehnung eines föderalen Autonomiestatuts durch Madrid entstand, hat die Regierungspartei CIU zerbrechen lassen. Die unternehmernahe Unió hat die Regierung verlassen, die liberale Convergència soziale und demokratische Forderungen in ihr Programm aufnehmen müssen. Diese Verschiebung reflektiert sich nicht zuletzt in der Zusammensetzung des Bürgerbündnisses Junts pel Sí. Deren Spitzenkandidat war der Linksgrüne Raül Romeva, und neben Liberalen und Sozialdemokraten kandidierten auch einige ausgewiesene Linke auf der Liste. Es stimmt zwar, dass die Regierungspartei Convergència mit ihrem Schwenk auf die Unabhängigkeitsforderung von Korruptionsskandalen abzulenken versucht. Doch die Bürgerbewegung im Umkehrschluss als Anhängsel der Rechten zu beschreiben, ist anmaßend. Ein Teil der Katalanen mag sich die Unabhängigkeit aus wohlstandschauvinistischen Gründen wünschen, doch ein mindestens ebenso großer Teil tut dies aus demokratischen Motiven.
Viertens ist die linksradikale Candidatura d’Unitat Popular (CUP), die ihren Stimmenanteil auf 8,3 Prozent verdreifachen konnte, zum zentralen Akteur geworden. Die feministische, antikapitalistische CUP ist ein Unikat in der europäischen Parteienlandschaft: Von eher dogmatischen Linken gegründet, hat sie sich in eine offene Plattform verwandelt. Die Entscheidungen werden von Vollversammlungen getroffen, der Schwerpunkt liegt auf der Arbeit in den Gemeinden. Die bekanntesten Gesichter Anna Gabriel, David Fernández und Antonio Baños sind eher Anarchisten als »Katalanisten«. Dass gleichzeitig Catalunya Si que es Pot (das Bündnis von Podemos, Izquierda Unida und Linksgrünen) mit neun Prozent schlechter abschnitt als 2012 die Linksgrünen allein, zeigt, dass die von Podemos verfolgte Strategie keineswegs alternativlos ist. Anders als Podemos hat sich die CUP weder die Staatsräson zueigen gemacht noch hat sie auf entpolitisierte Marketing-Strategien gesetzt. Genau das jedoch hat die gesellschaftliche Debatte nach links verschoben. Die CUP zeigt, dass linke Hegemoniepolitik auch anders verfolgt werden kann.
Fünftens: Die weitere Entwicklung ist völlig offen. Zwar haben nur 48 Prozent für die Unabhängigkeitsparteien (gegenüber 39 Prozent für die prospanischen Parteien) gestimmt. Aber es gibt eine klare Mehrheit für einen »konstituierenden Prozess«. Auch Catalunya Si que es Pot mit seinen neun Prozent tritt nämlich für das Selbstbestimmungsrecht und die Ausarbeitung einer katalanischen Verfassung ein. Es gibt also ein Mandat für den demokratischen Bruch: für eine Debatte über eine grundlegende Veränderung der katalanischen Gesellschaft. This is democracy.
Der Publizist und Schriftsteller Raul Zelik veröffentlichte vor wenigen Tagen das Buch »Mit Podemos zur demokratischen Revolution?«.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.