Kinder als Beitragsrisiko
Urteil: Wer Kinder hat, muss gleich viel in die Rentenversicherung einzahlen wie Kinderlose
Sind Eltern gegenüber Kinderlosen bei den Sozialversicherungsbeiträgen benachteiligt? Mit dieser Frage befasste sich am Mittwoch das Bundessozialgericht (BSG) in Kassel - und kam zu dem Urteil, dass das nicht der Fall ist. Der Gesetzgeber habe einen weiten Spielraum, dieser sei eingehalten worden. Eltern könnten deshalb keine weitere Entlastung bei den Beiträgen für Renten-, Pflege- oder Krankenkassen verlangen.
Geklagt hatte ein Elternpaar aus Freiburg mit drei erwachsenen Kindern. Seit 2006 kämpfen sie sich durch die Instanzen, um weniger Sozialbeiträge zahlen zu müssen. Als Grund gaben sie an, dass Eltern doppelt belastet seien: Erstens hätten sie höhere Kosten als Kinderlose - etwa für Essen, Schulbücher oder Kleidung - und zahlten dennoch die gleichen Beiträge wie erstere. Zweitens seien Kinder die Beitragszahler von morgen und »nützten« deshalb dem gesamten Versicherungssystem, und so auch jenen, die keine eigenen haben.
Bestehende Entlastungen für Familien glichen diese Nachteile nicht aus, so die Kläger. So würden Kinderbetreuungszeiten zwar auf die Rente angerechnet, allerdings stehe das in keinem Verhältnis zu den rentenversicherungstechnisch verlorenen Arbeitsjahren, in denen ein Elternteil mit den Kindern zu Hause bleibt. Auch die kostenlose Mitversicherung von Kindern bei der Krankenkasse reiche nicht aus, um die Nachteile auszugleichen, argumentierten die Kläger.
Ein von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebenes Gutachten bestätigte das vergangenes Jahr eindrücklich: Nach Berechnungen des Bochumer Sozialwissenschaftlers Martin Werding zahlt ein im Jahr 2000 geborenes Kind mit einem durchschnittlichen Einkommen rund 77 000 Euro mehr in die Rentenversicherung ein, als es selbst Rente bekommt. Rechnet man alle staatlichen Leistungen für Familien gegen Sozialbeiträge und Steuern auf, übersteigen demnach die Einzahlungen die erhaltenen Geld- und Sachleistungen immer noch um rund 50 500 Euro. Fazit: Die familienpolitischen Leistungen bringen keine Entlastung.
Das Gericht folgte dieser Argumentation allerdings nicht: Der Gesetzgeber könne über die Form der Entlastung von Familien entscheiden, eine Beitragsminderung sei dafür nicht notwendig. Die Kläger dagegen berufen sich auf ein Urteil vom 3. April 2001. Damals hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Bürger, »die Kinder betreuen und erziehen und damit neben dem Geldbetrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisten«, einen niedrigeren Beitrag zur Pflegeversicherung zahlen müssen als Menschen ohne Nachwuchs. Der Beitrag wurde für Kinderlose um 0,25 Punkte angehoben. Die Richter urteilten, dass die Politik »die Bedeutung des Urteils auch für andere Zweige der Sozialversicherung prüfen« solle. Bis heute sahen die wechselnden Regierungen aber keinen Bedarf für Änderungen.
Dem Kasseler Urteil vom Mittwoch vorausgegangen war ein Kampf für die finanzielle Entlastung von Familien, angeführt vom früheren hessischen Sozialrichter Jürgen Borchert. Der Jurist hat zwei entscheidende Urteile erstritten: Im »Trümmerfrauenurteil« von 1992 hieß es, Kindererziehung habe »bestandssichernde Bedeutung« für die Rentenversicherung. Auch das erwähnte »Beitragskinderurteil« erwirkte er. In Kassel trat er als Prozessbevollmächtigter der Kläger auf.
Nun schlägt Borcherts nächste große Stunde: Die Familie will vors Bundesverfassungsgericht ziehen. Gleichzeitig bereitet Borchert eine Massenverfassungsbeschwerde von Eltern vor, die vom Familienbund der Katholiken und dem Deutschen Familienverband (DFV) unterstützt wird. 1500 Eltern beteiligen sich bisher, täglich werden es laut dem Geschäftsführer des DFV, Siegfried Stresing, 50 bis 100 mehr. Stresing sagte dem »nd«, nach dem aktuellen Urteil sei der »Weg nun frei zum Bundesverfassungsgericht«.
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