Am Schwarzenstrich
Martin Leidenfrost über sich im kalten Europa nicht zu Hause fühlende Italiener und frierende afrikanische Prostituierte
Diesen Sommer besuchte ich zwei Mal einen italienischen Straßenstrich. Ich wollte verstehen, warum gerade Italiener diesen für Europa ungewöhnlichen Hang zu afrikanischen Prostituierten haben. Allein aus Nigeria zehntausend.
Ich kam im frühen Sommer auf die SP40, eine Umfahrungsstraße an der äußersten Peripherie von Mailand. Es dunkelte, nach einem Regenbruch schimmerte die graue Wolkendecke in einem rostigen Rot. Kreisverkehre, Kreditkarten-Tankstellen, nachts unbesetzte Logistikanlagen, reichlich Buschwerk. Viele Osteuropäerinnen, sie standen oft allein. Die Afrikanerinnen arbeiteten in kleinen Gruppen. Sie hatten Hotpants in knalligen Farben an, einige saßen unter gigantischen schwarzen Regenschirmen. Sie sprangen männlichen Autofahrern, die von der SP40 abbogen, vor die Kühlerhaube.
Ich hatte mich vorbereitet, durch das Nachlesen von Chats italienischer Sexkunden im Internet. Eine »ElFi«, die sich als Betreuerin von Menschenhandelsopfern vorstellte, stellte ihnen genau meine Fragen. Zum Beispiel: »Spielt hier auch Transgression rein?« Pseudonyme wie »Randy Mellons« antworteten, dass der um zehn bis 15 Euro niedrigere Preis ausschlaggebend sei. Afrikanischer Sex ist in Mailand billiger als Essengehen. Ein »Tallulah« meinte: »Vielleicht sind die Schwarzen herzlicher.« Die Pseudonyme überschlugen einander mit obszönen Behauptungen anatomischer und akustischer Besonderheiten, alle nicht zitierfähig. »ElFi« stellte die Schlüsselfrage: »Spielt eurer Meinung nach rein, dass man sich der Schwarzen überlegen fühlen will?« Ein »Randagio« darauf: »Wer es nötig hat, sich einem Fickfetzen überlegen zu fühlen, ist krank.«
Später in der Nacht fiel mir an der SP40 ein heimelig roter Imbisswagen auf. Die verschlungene Leuchtschrift verhieß »Panini«. Eine schon etwas reifere Frau, eine Landpomeranze in roten Karottenhosen, fegte dünne Pfützen vom ebenen Asphalt weg. Ich fand das unnötig. Naja, eine gewissenhafte Reinemachefrau eben. Die Inhaber des Imbisswagens, Vater und Sohn, waren fesche katholische Albaner aus Shkodra. Der Sohn antwortete auf meine Frage so entspannt, als täten sie im Imbiss nichts anderes, als Huren zu vergleichen. Er lobte sie alle, für jeden was dabei.
Zwischendurch hielten albanische und rumänische Arbeiter, die wohl auch ein Stück Heimat suchten. Die nette Landpomeranze, die nur Albanisch sprach, saß meist unter dem Vordach des Imbisswagens. Ein Kleinlaster mit offener Ladefläche fuhr vor, heraus sprang ein kraftsprühender Kerl in weißem Unterhemd. Der junge Albaner sagte: »Der zum Beispiel fährt absolut auf Schwarze ab.« Ich stellte dem Kerl die Frage. »Das ist aber ein psychologischer Diskurs«, gab er grinsend zurück. Dann machte er im lombardischen Dialekt einen Witz über Solarienbräunung, den ich ehrlich gesagt nicht verstand.
Der albanische Paniniröster ließ es sich nicht nehmen, mir für den Beitrag Österreichs zur Befreiung Albaniens vom Türkenjoch zu danken, »aber vorher hat uns Europa ihnen fünf Jahrhunderte ausgeliefert.« Für den Hang der Italiener zu afrikanischen Prostituierten hatte er eine interessante Erklärung: »Die Italiener fühlen sich nicht zu Hause in diesem kalten und rationalen Europa. Sie sehnen sich nach Leidenschaft, nach Lautstärke, nach Spaß. Ihre eigentliche Sehnsucht ist Brasilien. Und weil’s hier keine Brasilianerinnen gibt, gehen sie zu den Schwarzen.«
Der Vater, der ein goldenes Kreuz über dem schwarz-violetten Sweater baumeln hatte, hörte lange nur zu. Dann wollte er mit mir über den Glauben reden. »Ich bin hundertprozentig sicher«, erklärte er, »dass das Ewige Leben existiert.« Unvermittelt zeigte er auf die albanische Landpomeranze: »Die ist eine Spezialistin, hoho!« - »Spezialistin von was?« - »Davon.« Nach diesem Schock enttäuschte mich auch seine Rechtgläubigkeit: »Dass die Pyramiden von Außerirdischen gebaut wurden - da bin ich hundertprozentig sicher!«
Im späten Sommer hielt ich noch einmal in der lombardischen Ebene. Es war schon finster, diesmal standen da vorwiegend Afrikanerinnen. Ich hielt bei sieben Ghanaerinnen, die am Straßenrand um ein Lagerfeuer saßen. Kaum Verständigung möglich, und ich fragte nicht nach den Berichten von Gewalt und Schulden und von Voodoo-Kulten zum Gefügigmachen. Sie arbeiten 16 Stunden täglich, sagte eine. Ich verabschiedete mich. An der SP40 standen kleine Blechtonnen. Aus ihnen loderten Feuer. Dahinter die Schemen frierender schwarzer Frauen.
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