Bis in die Bergdörfer im Allgäu

Bislang haben sie vor allem Unterschriften gesammelt, nun wollen die TTIP-Gegner zum ersten Mal auf der Straße zeigen, dass sie eine Macht sind

Die Demonstration gegen TTIP dürfte die größte des Jahres werden, erstaunlich eigentlich, bei einer trockenen Materie wie einem Handelsvertrag. Den Organisatoren ist etwas gelungen, was die Verantwortlichen mit Absicht unterlassen: Sie haben ein abstraktes Thema greifbar gemacht.

In einem kleinen Raum in Berlin Wilmersdorf sitzen die »Handwerker«, so nennt Jörn Alexander sich uns seine vier Kollegen, die die Demo gegen die Freihandelsabkommen TTIP und CETA vorbereiten. Inhaltlich, das will der 41-Jährige damit sagen, sind die Trägerorganisationen zuständig, die begründen, warum der Vertrag zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten zwar die Konzerne frei macht, aber Bürger und Politik in Fesseln legt. Sie hingegen zimmern den kommenden Großprotest zusammen, sie koordinieren, organisieren, strukturieren Materialversand, Anreise, Ablauf.

Seit Mai gibt es das Büro in den Räumen der Berliner Naturfreunde, die für das Bündnis die Demo angemeldet und Platz für das Orga-Team gemacht haben. Zunächst waren sie zweit, nun sind sie zu fünft im Team, allesamt mit politischen Erfahrungen. Jörn Alexander hat schon mal Sitzblockaden gegen den Castor mit organisiert. »Aber das hier ist noch einmal eine andere Dimension.« Wenige Tage vor dem Ereignis sind die »Handwerker« voll ausgelastet. »Bei uns brennt die Bude«, sagt er.

Die Demonstration gegen TTIP und CETA am 10. Oktober wird nicht irgendeine Latschdemo, sondern dürfte die größte diese Jahres, wahrscheinlich sogar die größte seit den letzten Großprotesten gegen Atomkraft werden. Die Organisatoren erwarten mehr Teilnehmer als zur kritischen Agrardemo im Januar, bei der TTIP im Mittelpunkt stand. Da kamen 50.000. Mehrere hundert Busse sind gebucht, fünf Sonderzüge auf der Schiene, eine Mitfahrbörse geschaltet, einige Leute wollen mit Fahrrad anreisen und suchen Begleitung. Die Empörung über die Freihandelspläne hatte schon zur Demonstration gegen den G7-Gipfel im Sommer in München überraschende 40.000 Menschen mobilisiert. Im April fanden dezentrale Aktionen in 300 Orten statt. »Damals wurde deutlich: Da ist eine Massenbewegung im Entstehen«, sagt Alexander. Die Zahl der lokalen Initiativen ist beeindruckend. Im Büro haben sie längst den Überblick verloren.

Hinter dem sperrigen Namen Transatlantic Trade and Investment Partnership – kurz TTIP – verbirgt sich ein Vorhaben, durch das die größte Freihandelszone der Welt entstehen soll. Die EU-Kommission erhofft sich davon ein Wachstum des Bruttosozialprodukts um 0,5 Prozent pro Jahr. Sie verhandelt im Auftrag der europäischen Regierungen. Das ähnliche Wirtschaftsabkommen mit Kanada, CETA, ist bereits fertig ausbuchstabiert und muss nur noch politisch beschlossen werden. Die Auseinandersetzung konzentriert sich daher auf den Vertrag, der noch im Entstehen ist.

Ginge es nach der Industrie, wäre über TTIP öffentlich gar nicht geredet worden. Dass dieser Versuch gescheitert ist, und TTIP zu den umstrittensten politischen Themen dieser Tage geworden ist, ist einigen Whistleblowern und der Hartnäckigkeit der TTIP-Gegner zu verdanken.

Im Herbst 2012 war ein kleiner Kreis von Einzelpersonen und NGOs, die schon länger die europäische Handelspolitik verfolgen, darauf aufmerksam geworden. Damals führte die EU-Kommission erste Konsultationen zu einem möglichen EU-US-Abkommen durch. Schon zu diesem Zeitpunkt und spätestens aber, als die Verhandlungen im Februar 2013 offiziell angekündigt wurden, war klar, dass das Abkommen eine Reihe von Zumutungen beinhalten würde. Innerhalb kürzester Zeit formierte sich Widerstand. Ein neues Bündnis begann europaweit Unterschriften für den Stopp der TTIP-Verhandlungen zu sammeln. Aus beachtlichen 200 Organisationen, die zum Start die Europäische Bürgerinitiative (EBI) unterstützten, sind inzwischen 500 Organisationen aus ganz Europa geworden. Dass die EU-Kommission der Initiative die Anerkennung verweigerte, hat ihr nicht geschadet. Im Gegenteil: Sie haben weiter gesammelt und die Empörung darüber, wie ein Anliegen der oft beschworen europäischen Zivilgesellschaft vom Tisch gefegt wurde, hat eher beflügelt.

Die größte Ablehnung herrscht in Deutschland und Österreich, aber auch in anderen Ländern sind die Bürger inzwischen alarmiert. Am 7. Oktober sollen die Unterschriften in Brüssel übergeben werden. Ob aus den bislang rund 2,95 Millionen noch drei Millionen werden, ist letztlich egal: In jedem Fall hat die Initiative längst das vielfache dessen erreicht, was für eine richtige Europäische Bürgerinitiative nötig gewesen wäre. Die Initiatoren fordern bereits, genauso behandelt zu werden, wie eine offizielle EBI. Das heißt, die EU-Kommission müsste öffentlich dazu Stellung nehmen.

Eigentlich ist der Schub erstaunlich bei einem solch komplexen und abstrakten Gegenstand wie einem Handelsvertrag. Die Politisierung ist dennoch gelungen. Die strenge Geheimhaltung hat sich zum größten Mobilisierungsfaktor entwickelt. Selbst im Europaparlament und Bundestag war zunächst nicht bekannt, mit welchem Auftrag die Kommission in die Verhandlungen geht. Einblick in sämtliche Dokumente haben die deutschen Abgeordneten bis heute nicht. Bundestagspräsident Norbert Lammert sicherte ihnen zwar gerade »uneingeschränkten Zugang« zu. Daran glauben wollen sie jedoch erst, wenn es so weit ist. Noch gibt es nicht mehr als eine freundliche Bereitschaftserklärung des EU-Kommissionspräsidenten Jean Claude Juncker. Die USA hat er noch gar nicht gefragt.

Die Bürger sind misstrauisch: Was so sehr das Licht der Öffentlichkeit scheut, könne nicht gut sein. Details, die durchgesickert sind, bestätigten die Befürchtungen. Verhandelt wird über weit mehr als Investitionsschutz und Handel. Die Kritiker warnen vor Einschnitten beim Umwelt- und Verbraucherschutz, im Gesundheitssektor, bei Arbeitsstandards, Bildung und Kultur. »Gesellschaftliche Errungenschaften gelten als Handelshemmnisse«, kritisiert Demoorganisator Jörn Alexander. Mit TTIP, so sehen es die Gegner, liefert sich die Politik den Konzernen aus: Sie sollen vorab Gesetzentwürfe prüfen und vor Sondergerichten klagen dürfen, wenn sie sich in ihren Geschäften beeinträchtigt sehen. »Das geht an die Substanz der parlamentarischen Demokratie«, so Alexander.

Jeder ist potenziell davon betroffen. Entsprechend vielstimmig ist der Ruf nach einem Abbruch der Verhandlungen. Hunderte Kommunen lehnen TTIP ab, was bei SPD und CDU Eindruck macht, sind es doch ihre Bürgermeister, die sich gegen sie positionieren. Über 1000 »Kleine und mittlere Betriebe« fordern »Stopp«. Sie glauben der Behauptung nicht, dass die neuen Investitionsregeln dem Mittelstand nützen. Besorgt sind Bäcker, Fotoläden wie Maschinenbauer, viele kommen aus Bayern, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, den industriellen und gewerblichen Schwerpunkten Deutschlands, wie die Initiatoren dieser Unterschriftenkampagne hervorheben.

Viele Neins auf dem Papier sind das Eine, massenhafter Protest auf der Straße etwas anderes. Die Demonstration am 10. Oktober soll die Unterschriften lebendig machen. Der Aufruf legt Wert darauf, neben der Kritik konstruktive Alternativen für einen gerechten Welthandel zu formulieren. Weit über 100 Organisationen unterstützen ihn. »Das Bündnis ist in dieser Breite einmalig«, betont Alexander: Sozial- und Umweltverbände - »auch die großen«, Gewerkschaften – die nicht nur ihren Namen drunter setzen, sondern richtig aktiv sind, ein Großteil der Busse stammt von ihnen, kostenlos für Mitglieder. Verbraucherschutzverbände, kirchliche entwicklungspolitische Organisationen, Pen Zentrum, Verkehrsclub Deutschland oder Kulturrat - die Kritik an dem Freihandelsabkommen vereint die gesamte Zivilgesellschaft. Auch Parteien sind an Bord. Nur die radikale Linke steht am Rand.

Pegida wäre ebenfalls gern aufgesprungen, darf aber nicht. »Wir arbeiten nicht mit rassistischen Gruppen zusammen«, erklärt Alexander. Das Büroteam achtet penibel darauf, dass sich Anhänger von Antiamerikanismus und Antisemitismus nicht auf die Unterstützerliste schummeln.

Den anderen schicken sie Mobilisierungsmaterial. Viele 1000 Pakete wurden gepackt, nicht von ihnen selbst, das hätte das Büro lahm gelegt, sondern von einem Versanddienstleister in Berlin. Fast eine Million Flyer sind verschickt, »bis in Bergdörfer im Allgäu hinein«. Man muss schon Scheuklappen tragen, um dieser Tage nicht irgendwo auf die weiß-roten Plakate zu stoßen.

Schon jetzt haben die Kritiker einiges erreicht. Die EU-Kommission war schließlich gezwungen, das Verhandlungsmandat öffentlich zu machen. Die Verabschiedung einer Resolution des Europaparlaments musste verschoben werden, weil die Mehrheiten nicht sicher waren. Die Parlamentarier haben sich später zwar nicht wie erhofft von TTIP distanziert. Allerdings fordern sie, die privaten Schiedsgerichte durch öffentliche zu ersetzen. An dieser Stelle hat die EU-Kommission inzwischen reagiert und ihre Position modifiziert. Die USA will da nicht mitgehen. Am Grundproblem änderte sich aus Sicht der Kritiker ohnehin nichts: Es bleiben Sondergerichte, die den Konzernen einseitig Klagerecht einräumen, monieren sie.

Die Erfolgsbilanz schmückt auch die SPD. Mit Berlin hat sich kürzlich ein erster Landesverband an die Seite der TTIP-Gegner gestellt und damit gegen den eigenen Wirtschaftsminister Gabriel.

Noch stricken EU und USA allerdings weiter an ihrer Freihandelszone. Wenn es schlecht läuft, bis zum letzten Spiegelstrich. Dann, hoffen die Widersacher, kann das Abkommen nur noch bei der Ratifizierung gestoppt werden. Die Frage ist umstritten, aber nicht nur sie gehen davon aus, dass Bundestag und Bundesrat in Deutschland das letzte Wort haben müssten. Damit das passiert, wird eine Demo nicht reichen. Aber sie könnte ein wichtiger Zwischenschritt sein.

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