Kein Politiker
PERSONALIE
»Die Nachkommen müssen das schwierige Urteil fällen.« So lautet ein italienischer Spruch, und er trifft auch auf Roms Bürgermeister Ignazio Marino zu, der nach einem Skandal um veruntreute Steuergelder zurückgetreten ist. Die Nachkommen werden darüber urteilen müssen, ob der weltbekannte Chirurg, der zwei Jahre lang das Amt im Kapitol bekleidete, denn gut oder schlecht gearbeitet hat. Auf der Haben-Seite steht sicherlich sein Kampf gegen die römische Mafia, der aber im Ausland mehr Anerkennung fand als in Italien. Marino arbeitete unermüdlich mit der Staatsanwaltschaft zusammen und versuchte, die verkrusteten mafiösen Strukturen in der Stadtverwaltung aufzubrechen, in denen Korruption an der Tagesordnung war und wohl noch ist. Positiv ist fraglos auch die Tatsache, dass sich Marino immer für die Bürgerrechte zum Beispiel von homosexuellen Paaren einsetzte, was dem Katholiken offensichtlich die Feindschaft konservativer und reaktionärer Kreise auch im Vatikan einbrachte.
Negativ schlägt seine Unfähigkeit zu Buche, die Erfolge, die er zweifellos erzielte, medien- und öffentlichkeitswirksam zu »verkaufen«. Negativ ist zudem, dass der 60-Jährige zahlreiche Auslandsreisen absolvierte und oft gerade dann nicht in Rom war, wenn dort Dinge passierten, die eigentlich seine Anwesenheit erfordert hätten. Und dass in Rom der Nahverkehr und die Müllabfuhr weiterhin schlecht funktionieren, war und ist sicher keine Nebensache.
Der größte Vorwurf, den man Ignazio Marino aber wohl machen muss, ist, dass er nicht rechtzeitig verstand, dass sein vielleicht ärgster Feind gerade seine Partei - die Demokratische Partei von Ministerpräsident Matteo Renzi - war, in der er stets ein Fremdkörper blieb. Dass die Parteispitze den Arzt nie wirklich wollte, ist ein offenes Geheimnis; und die Probleme wurden größer, je mehr er sich über die Machtstrukturen der PD in Rom hinwegsetzte, um sein eigenes Ding zu machen. Fazit: Ignazio Marino war und ist kein Politiker. Ob das positiv oder negativ ist für einen Oberbürgermeister der Hauptstadt Italiens, müssen die Nachkommen beurteilen.
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