Hessens Parlament als lästiges Übel?
Landesregierung behindert weiter Ermittlungen zum Mordfall in Kasseler Internetcafé
Bei der Aufklärung des mutmaßlich vom NSU verübten Mordes an dem Kasseler Internetcafébetreiber Halit Yozgat im April 2006 und der umstrittenen Rolle des Inlandsgeheimdienstes kommt der Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags nach Ansicht der Oppositionsparteien SPD und LINKE kaum voran. Vertreter beider Parteien bekräftigten dieser Tage ihren Vorwurf, dass die Koalitionsparteien CDU und Grüne auf Zeit spielten und eine vollständige Aufklärung zu verhindern versuchten. Der heutige Regierungschef Volker Bouffier (CDU) war 2006 als Innenminister für Polizei und Verfassungsschutz zuständig. CDU und Grüne hatten sich bei der Landtagsabstimmung über die Einsetzung des Untersuchungsausschusses im Frühjahr 2014 der Stimme enthalten.
Als Affront gegenüber dem Parlament bezeichnen es Oppositionsabgeordnete, dass eine von der schwarz-grünen Landesregierung eingesetzte Expertenkommission zur Umsetzung der Handlungsempfehlungen des bis 2013 bestehenden Bundestags-Untersuchungsausschusses zu Konsequenzen aus der NSU-Mordserie völlig am Landtag vorbei operiert habe. Diese Regierungskommission hatte am Montag vergangener Woche bei einer Pressekonferenz im Wiesbadener Innenministerium ihren Abschlussbericht vorgelegt und darin einzelne organisatorische Veränderungen und personelle Aufstockungen bei Polizei und Landesamt für Verfassungsschutz angeregt.
Ausgerechnet zu dieser Stunde tagte im nahen Landtag der NSU-Untersuchungsausschuss, der Termin stand seit Monaten fest. Dadurch konnten die NSU-Obleute der Fraktionen und Ausschussmitarbeiter nicht an der Vorstellung des Berichtes teilnehmen. Die Überschneidung war nach Überzeugung der Opposition gewollt. Dass Innenminister Peter Beuth (CDU) trotz aller Proteste am kurzfristig anberaumten Termin festhielt, zeige, »dass Schwarz-Grün anscheinend bisher eine Schmierenkomödie aufgeführt hat und der Blick zurück und wirkliche Aufklärung nicht gewünscht wird«, so der SPD-Abgeordnete Günter Rudolph. Offenbar sehe die Regierung das Parlament lediglich als »notwendiges Übel« an.
Unterdessen sind Oppositionsabgeordnete auf weitere Ungereimtheiten in der offiziellen Darstellung der Umstände um die Ermordung von Halit Yozgat gestoßen. So sieht der Abgeordnete Hermann Schaus (LINKE) neue Hinweise, dass die mutmaßlichen Täter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wenige Tage vor dem Mord ein Rechtsrock-Konzert in Kassel besuchten. Ein auf CD gebrannter Mitschnitt stehe dem Ausschuss bisher jedoch nicht zur Verfügung, die CD sei »verschollen«. Außerdem verdichten sich laut Schaus die Hinweise darauf, dass sich der Ex-Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme entgegen seiner bisherigen Darstellung zum Mordzeitpunkt persönlich im Kasseler Internetcafé aufgehalten hat. Dafür sprächen Zeugenaussagen sowie akribisch zusammengetragene Zeitprotokolle von Telefonaten und Internetsitzungen. So sei Temme im Moment der tödlichen Schüsse auf Yozgat offenbar an einem PC in dem Café eingeloggt gewesen. Die Hinweise verdichteten sich, »dass der Verfassungsschützer den Schuss gehört und den toten Halit Yozgat gesehen haben muss und sich erst danach rasch vom Tatort entfernte«, so Schaus.
Temme ist in seiner nordhessischen Heimatgemeinde Hofgeismar als »kleiner Adolf« bekannt. Das Landesamt für Verfassungsschutz wusste offenbar bei der Einstellung von Temmes brauner Vergangenheit, so Schaus. Temmes vor einem Jahr angeforderte Personalakte liege dem Untersuchungsausschuss allerdings bis heute nicht vollständig vor.
Zu den Zeugen, die der Ausschuss im Dezember befragen will, gehört auch der ehemalige hessische Verfassungsschutzpräsident Lutz Irrgang. Unter seiner Führung blieb die Leitung des Referats »Rechtsextremismus« im Jahre 2006 während der Mordermittlungen im Fall Yozgat offenbar zehn Monate lang unbesetzt.
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