Unternehmerlobby lässt Bundeszentrale zensieren
Publikation über »Ökonomie und Gesellschaft« nach fragwürdigen Vorwürfen gestoppt / Soziologen-Gesellschaft und IG Metall sprechen von Skandal
Bei der Bundeszentrale für politische Bildung ist es offenbar zu einem Fall von Zensur im Auftrag der Unternehmenslobby gekommen: Wie unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Soziologie kritisiert, habe das Bundesinnenministerium »auf Initiative der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände« (BDA) den Vertrieb der Publikation »Ökonomie und Gesellschaft« gestoppt. Begründet worden sei das vorläufige Vertriebsverbot mit einem angeblichen »Verstoß gegen den Beutelsbacher Konsens«, in dem die »Grundlagen der politischen Bildung in Deutschland« festgelegt sind.
Bei der Gewerkschaft IG Metall heißt es, einen ähnlichen Fall habe »es in dieser Form bei der Bundeszentrale für politische Bildung noch nicht gegeben«. Der erst im Februar erschienene Sammelband zur sozioökonomischen Bildung, verantwortet von Bettina Zurstrassen, habe der Konzernlobby offenbar so sehr missfallen, beklagt die Gewerkschaft, dass sie den Präsidenten der Bundeszentrale in einem Brief aufgefordert habe, den Band »in dieser Form nicht weiter zu vertreiben«, wie die Gewerkschaft zitiert.
Dies sei per Schreiben durch Peter Clever, Mitglied der Hauptgeschäftsführung der BDA, Anfang Juni geschehen, so die Gewerkschaft. In dem Brief werde der Publikation vorgeworfen, »ideologische« und »voreingenommene Anschuldigungen« hinsichtlich der Öffnung von Schulen für Unternehmen und des zunehmenden Lobbyismus an Schulen zu beinhalten.
Der für die Bildungspolitik verantwortliche IG-Metall-Vorstand Hans-Jürgen Urban spricht von einem Skandal: »Es darf nicht sein, dass Arbeitgeberverbände mit ihrer Lobbymacht unbequeme wirtschaftliche Theorien aus schulischer Bildung, Lehrerfortbildung und Unterrichtsmaterialien verbannen«, so Urban. In dem Sammelband sind die Beiträge von zwölf unterschiedlichen Autoren versammelt.
Laut Deutsche Gesellschaft für Soziologie »stehen drei der neun Beiträge, die kritische Perspektiven auf wirtschaftspolitischen Lobbyismus werfen oder alternative, auch soziologisch fundierte wirtschaftstheoretische Ansätze aufgreifen« auf dem Verbotswunschzettel der BDA. Um seinen Willen durchzusetzen soll die Unternehmerlobby sogar »Zitate verkürzend aus dem Kontext gerissen und Zitate durch nicht markierte Auslassungen verfälschend dargestellt« haben. Dieses Gebaren sei dem zuständigen Bundesinnenministerium auch bekannt gemacht worden.
Wie die Deutsche Gesellschaft für Soziologie erklärte, ist der inzwischen mit der Überprüfung der Vorwürfe betraute Wissenschaftliche Beirat der Bundeszentrale mehrheitlich zu dem Schluss gekommen, »dass der Vertrieb der Publikation als unproblematisch anzusehen ist«. Der Vorstand der Soziologen-Vereinigung kritisierte den Vorgang als »eine ungeprüfte Verdächtigung« und eine inakzeptable Maßnahme. Man verwehre sich gegen diesen »massiven Eingriff des Ministeriums in die Freiheit der Wissenschaft«.
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