Das einsame Huhn

Tereza Boucková: »Im Jahr des Hahns«

  • Reiner Neubert
  • Lesedauer: 3 Min.

Dass Tereza Boucková eine exzellente Erzählerin ist, hat sie längst bewiesen. Seit der »samtenen Revolution« veröffentlichte sie einiges an Feuilletons und Prosa. Das Buch »Indianerlauf« (1992, dt. 1993) war ihr internationaler Durchbruch. Darin beleuchtet sie die komplizierte Situation, nachdem ihr Vater, Pavel Kohout, sie, ihre beiden Geschwister und ihre Mutter Mitte der 60er Jahre verlassen hatte.

»Das Jahr des Hahns« meint ihr Geburtsjahr. 1957 ist nach dem chinesischen Horoskop das Jahr des Hahns und Kohout bedeutet im Tschechischen Hahn. Da die Jahre im Zeichen des Hahns noch in Unterkategorien unterteilt werden (singender Hahn, Hahn im Käfig, Hahn auf der Burg etc.), bleibt für die Ich-Erzählerin, die stark autobiografisch geprägt sein dürfte, nur die Rubrik »einsamer Hahn« übrig.

Nach außen hin ist ihr Leben alles andere als einsam. Die Handlungszeit von August 2005 bis Sommer 2006 birgt eine Vielfalt von Begegnungen - mit gleichgesinnten Freunden und Künstlern sowie mit Menschen des öffentlichen Lebens, mit denen sie aus unterschiedlichen Gründen derb ins Gericht geht. Mit ihrem Mann Marek und drei Kindern wohnt sie in der Nähe von Prag in einem Anwesen, das sie selbst seit Ende der 80er Jahre aufgebaut und gestaltet haben. Weil sie beide zunächst keine eigenen Kinder bekamen, adoptierten sie nacheinander die beiden niedlichen Roma-Kinder Patrik und Lukáš, bevor sie 1991 mit Matej doch noch ein eigenes Kind zeugen konnten.

Doch nun ist der älteste Sohn Patrik seit Monaten untergetaucht, weil ihn die Polizei sucht. Lukáš tritt kurz vor seinem 18. Geburtstag in die Fußstapfen des Bruders, stiehlt, lügt, dass sich die Balken biegen, schwänzt die Schule, weicht aus in die Alkohol- und Drogenszene, worüber die Eltern in Ängste, mitunter in Streit geraten. Das wiederum verstört den Jüngsten. Matej zieht sich mehr und mehr in sich selbst zurück. Ehemann Marek flüchtet zu seinen Fahrrädern …

Und die Schriftstellerin? Sie versucht, nach den Ursachen ihres »Versagens« zu forschen. Das Schreiben wird ihr unmöglich. Verzweifelt wehrt sie sich, Suizidgedanken aufkommen zu lassen. Dazu kommen die Begegnungen mit ihrer über 70-jährigen Mutter in Prag, die spärlichen Kontakte mit dem Vater, der sie fast dreißig Jahre nicht besucht hatte. Aber der eigentliche Grund, weswegen sie und Marek schon »wie die Tiere« leben, ist das zügellose Benehmen der Adoptivkinder. Kurz nach Neujahr 2006 stellt sich zudem heraus, dass Lukáš die 15-jährige Eva geschwängert hat. Wird es ihm gelingen, seine Tochter anzunehmen und sich zu ändern? Die Schriftstellerin stellt die Musik im Radio lauter. »Ich singe mit. Tanze. Hüpfe wie verrückt.« Aber wie lange?

Die mit philosophischen Sentenzen und eigenen Kommentaren durchsetzten Episoden, die wie Tagebucheintragungen wirken, häufig auch dramatisch inszeniert und mit einer Pointe endend, entfalten erst im Kontext ihre Wirkung, wie das bereits im Buch »Indianerlauf« der Fall war. Weswegen das neue Buch sieben Jahre benötigte, um in deutscher Übersetzung zu erscheinen, ist unerklärlich. Denn zwischenzeitlich kamen Bouckovás »Wahnsinnig traurige Geschichten« (2013, dt. 2014) im gleichen Verlag heraus; 13 Prosastücke, die allesamt das Gerüst für eine Novelle oder einen Roman hergeben könnten.

Tereza Boucková: Das Jahr des Hahns. Aus dem Tschechischen von Ulrike Helmke. Karl Rauch Verlag. 395 S., geb., 22 €.

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