»Heimat ist, wo ich beschließe zu bleiben«
Von Tunis nach Palermo: Eine Reise nahe der Fluchtroute durchs zentrale Mittelmeer
Wer im Hafen von Tunis auf der Fähre Zeus Palace Richtung Palermo eincheckt, betritt Hoheitsgebiet der EU und zugleich eine Miniatur globalisierter Arbeitsbeziehungen. Die Passagiere durchlaufen mehrere Pass- und Sicherheitskontrollen. In den Bars der insgesamt sieben Decks werden nur Euros angenommen. Fast jeder der Gütertrucks, die im Bauch des Schiffs verschwinden, wird zuvor geöffnet und sorgsam auf Schmuggelwaren und versteckte Menschen untersucht. Auf der Zeus Palace gibt es modern ausgestattete Schlafkabinen mit Fernsehgeräten und Duschen für mehr als 1000 Reisende. Diese buchen jedoch nur wenige, das günstigste Ticket für ein Bett in einer Kabine kostet 80 Euro.
Die meisten Passagiere sind tunesische Arbeitsmigranten, Pendler, die als Saisonkräfte in der italienischen Landwirtschaft arbeiten. Höchstens 20 000 Menschen pro Jahr erhalten in Italien eine Arbeitserlaubnis. Sie kommen mehrheitlich aus Marokko, Albanien, von den Philippinen und eben aus Tunesien. Während wir unsere Kabinen beziehen, breiten die nordafrikanischen Mitreisenden, darunter ganze Familien mit kleinen Kindern, auf den Gängen zwischen den Schlafabteilen Matten, Decken und mitgebrachtes Essen für die zwölfstündige Überfahrt aus. Diese weniger komfortable Art zu reisen kostet rund 50 Euro pro Person. Das ist allerdings auch nur etwa ein Zwanzigstel des Preises, den ein Flüchtling für einen Platz auf einem der überfüllten und für diese Reise völlig untauglichen Schlauchboote bezahlt.
Am Eingang zum Schlafdeck begrüßt uns eine Gruppe von Mitarbeitern des Kabinenservice. Die meisten von ihnen kommen aus Bangladesch oder von den Philippinen. Die Keeper der Schiffbars hingegen sind Zentralamerikaner. Einer der Barkeeper berichtet, dass er sechs Monate in Folge auf der Fähre und dann den Rest des Jahres in Honduras verbringe. Nicht nur die Fracht-, sondern auch die Personenschifffahrt ist zu einem hart umkämpften und vollkommen deregulierten Beschäftigungssektor geworden, in dem Reedereien und Dienstleistungsunternehmen global um die billigsten Arbeitskräfte und besten Aufträge ringen.
Als die Zeus Palace ablegt, ist es schon dunkel. Die nächsten 350 Kilometer bis zum Hafen von Palermo sehen wir auf ein schwarzes Meer und in einen schwarzen Himmel. Obgleich es heute kaum Seegang gibt und der Seeweg zwischen Tunesien und Sizilien nach der Meerenge von Gibraltar die kürzeste Route zwischen Nordafrika und Europa ist, wirkt die Dunkelheit bedrohlich. Dass sich nur wenige hundert Kilometer weiter südlich, von den libyschen Küsten aus, heute Nacht ebenfalls hunderte von Menschen, allerdings in Schlauchbooten, auf den Weg nach Sizilien machen, ist kaum vorstellbar, aber in diesen letzten warmen Tagen Anfang Oktober sehr wahrscheinlich. Mehr als 100 000 Menschen, vor allem aus dem Maghreb und dem subsaharischen Afrika, sind in diesem Jahr bereits per Seenotrettung auf dieser Route des zentralen Mittelmeers in Italien angekommen. Fast 2700 Bootsflüchtlinge sind zwischen Januar und September bei der Überfahrt ertrunken. Insgesamt gelten 23 000 Menschen auf dieser Route als tot oder verschollen. Das zentrale Mittelmeer ist damit nach wie vor die gefährlichste Fluchtroute in die EU.
Wie uns Mitarbeiter der International Organization for Migration (IOM) während unseres zweitägigen Besuchs in Tunis, wo wir auch Vertreter des UNHCR und der EU-Kommission, den Staatsminister für Migration und mehrere pro-migrantische NGOs getroffen haben, berichteten, wird die Seenotrettung von den Fluchthelfern eingeplant. So scheint es eine übliche Praxis zu sein, die mit Menschen überfüllten Schlauchboote ohne professionelle Fahrer und mit nur so viel Treibstoff, dass italienische Hoheitsgewässer erreicht werden können, von den libyschen Küsten ablegen zu lassen. Die Boote sollen also gar nicht in Italien ankommen. Vielmehr werden die Menschen auf hoher See oft tagelang ohne Versorgung ihrem Schicksal überlassen, bis sie von der Besatzung eines Frachtschiffs oder Fischkutters, von der italienischen Küstenwache oder bei einem Frontex-Einsatz aus dem Wasser geholt werden - oder eben untergehen. Der kürzlich beschlossene militärische EU-Einsatz gegen die Schleuser genau auf dieser Route wird daher nicht die Schleuser bekämpfen, denn die fahren mehrheitlich gar nicht mit hinaus aufs Meer, sondern im Gegenteil die Überfahrt für die Bootsflüchtlinge noch gefährlicher und teurer machen.
Am nächsten Morgen gegen sieben Uhr legt die Zeus Palace in Palermo an. Erneut durchlaufen wir mehrere Pass-, Zoll- und Sicherheitskontrollen. Ein Bus bringt uns in die Nachbarprovinz Trapani, wo wir eine der seltenen Genehmigungen für einen Besuch der Abschiebehaftanstalt (CIE) von Milo erhalten haben. Vor dem mit hohen Mauern und moderner Überwachungstechnologie gesicherten Bau empfängt uns der Präfekt von Trapani, Leopoldo Falci. Er macht ein besorgtes Gesicht, als er uns erzählt, dass am Tag zuvor 80 Insassen ausgebrochen seien und man deshalb die Sicherheitsvorkehrungen erhöht habe. Wieder durchlaufen wir einen Sicherheitscheck und werden dann in den Empfangsbereich der Hafteinrichtung geführt. Die Wände sind in frischem Gelb gestrichen und mit Exponaten wie Blumen und Ornamenten behängt, die, wie uns eine Sozialarbeiterin erzählt, von den Insassen aus buntem Plastikgeschirr und Plastikflaschen gefertigt wurden. Die Ausstellung wirkt zynisch: Abfallkunst für Aussortierte.
Während des anschließenden Rundgangs über das Gelände, bei dem wir auch die kargen und heruntergekommenen Haftzellen besichtigen können, sehen wir viele Soldaten und Carabinieri, aber keine Insassen. Wir fragen uns, wie hier, ohne ein zumindest passives Zutun des Sicherheitspersonals, der Ausbruch von 80 Gefangenen über die vier Meter hohen Mauern möglich gewesen sein soll. Schließlich wird eine kleine Abordnung unserer Delegation, darunter auch die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der LINKEN, Caren Lay, zu den verbliebenen Gefangenen vorgelassen.
In das CIE von Milo kommen hauptsächlich Menschen aus Nordafrika. Elio Tozzi von der Menschenrechtsgruppe Borderline Sicily bestätigt am folgenden Tag im Gespräch, dass die italienischen Behörden bereits auf den in Sizilien eintreffenden Schiffen mit geretteten Bootsflüchtlingen eine Art racial profiling durchführen: Wer »nordafrikanisch« aussieht, erhält sofort einen Ausreisebescheid oder wird in eine Abschiebehaftanstalt wie das CIE von Trapani-Milo verbracht, weil mit Tunesien und Marokko so genannte Rückübernahmeabkommen existieren. Dies bedeutet auch, dass es meist keine seriöse Anhörung und Einzelfallprüfung für Flüchtlinge aus Nordafrika in Italien gibt. Im Fall der am Tag vor unserem Besuch aus dem CIE von Trapani geflohenen Gefangenen, die einer Gruppe von insgesamt 115 hier inhaftierten Bootsflüchtlingen angehören, hatte der marokkanische Konsul nur 15 als eigene Staatsbürger anerkannt. Die ungewisse Zukunft bewegte die 80 Männer wohl zur Flucht.
Auch die rund 200 jungen Männer aus Westafrika in der Massenunterkunft eines Übergangszentrums (CAS), das wir mittags besuchen, haben mehrheitlich keine Chance auf Asyl in Italien. Da mit ihren Ländern jedoch keine Rückübernahmeabkommen existieren, warten sie, wie viele tausend weitere auch, seit Monaten und oft Jahren in den halb geschlossenen und dürftig ausgestatteten CAS auf die Entscheidung über ihr Asylgesuch - bevor viele von ihnen in die Illegalität gehen.
Die etwa 20 im Abschiebegefängnis von Milo verbliebenen Gefangenen berichten über fortgesetzte körperliche Misshandlungen seitens des Wachpersonals, mangelnde Gesundheitsversorgung und dass sie bezüglich ihres weiteren Schicksals nicht informiert werden. Dennoch soll das CIE von Milo, laut eines Vorschlags der EU, zu einem der zentralen Registrierungszentren an den europäischen Außengrenzen werden. In diesen Hotspots sollen alle ankommenden Flüchtlinge registriert, nach Herkunftsländern »sortiert« und gegebenenfalls zügig deportiert werden. Menschenrechtsgruppen sehen in den geplanten Hotspots vor allem eins: gigantische Abschiebelager.
Für eine radikale Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik hingegen steht Leoluca Orlando. Der energische Bürgermeister von Palermo schaffte es nicht nur, die Mafia aus der kommunalen Verwaltung zu verdrängen. Mit seiner Charta von Palermo rief Orlando auch ein weltweites Städtenetzwerk für das Recht auf freie Einreise sowie für die vorbehaltlose Aufnahme und Inklusion von Flüchtlingen ins Leben. Wir treffen ihn am letzten Tag unserer Reise im pompösen Rathaus von Palermo, wo er das Gespräch beginnt mit den Worten »Heimat ist, wo ich beschließe zu bleiben«.
Stefanie Kron ist Referentin für Internationale Politik und Soziale Bewegungen der Rosa Luxemburg Stiftung (RLS) und nahm an der von der RLS organisierten Delegationsreise zu »Migrations- und Grenzregimen« vom 29. September bis 3. Oktober nach Tunis und Palermo teil.
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