»Er ist der große Baum und ich bin der kleine Trüffel«
Ein Dokumentarfilm über das Leben und Schaffen des Dichters Dürrenmatt
Sie spielten gemeinsam Tischtennis. Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, die beiden Dichterfürsten der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Verbissen wie die kleinen Jungen. Jeder wollte gewinnen. Von den sportlichen Duellen erzählt Dürrenmatts Sohn Peter im Dokumentarfilm »Dürrenmatt – eine Liebesgeschichte« von Sabine Gisinger.
»Ohne Peter würde die Öffentlichkeit die leichte Seite in der Beziehung der beiden nicht kennen,« erzählt die Schweizer Regisseurin. »Bisher standen eher die Schwierigkeiten im Vordergrund, die die beiden miteinander hatten.« Die Rivalität und die Spaltung der Leserschaft vergleicht sie mit der zwischen den Beatles und den Rolling Stones. »Entweder war man glühender Frisch-Anhänger oder Dürrenmattianer. Ich zähle zu Letzteren.«
Die Liebe wurde ihr quasi in die Wiege gelegt. »Als Kind fand ich Dürrenmatt ziemlich gruselig: Ein dicker, mächtiger Mann mit wirrem Haar, gefräßig. Wenn «Fridu», der mit meinem Vater einst dieselbe Klasse am Freien Gymnasium in Bern besucht hatte, bei uns zum Nachtessen erschien, musste meine Mutter Berge von Fleisch braten. Die verschlang er zu meinem Ärger und dem meines Bruders zu großen Teilen ganz allein« erinnert sich Sabine Gisinger an die ersten Begegnungen mit der Legende im Hause der Eltern, wo Dutzende Erstausgaben der Werke Dürrenmatts im Schrank standen. Als Gymnasiastin schwärmte sie später von den Kriminalromanen, Gleichnissen und Theaterstücken »mit ihren absurden Wendungen, Dürrenmatts gnadenlose Art, die Dinge in seinen Stoffen zu Ende zu denken.«
Vor zwei Jahren dreht die Filmautorin und Historikerin die fiktive Biografie »Dürrenmatt – Im Labyrinth« für das Schweizer Fernsehen. Vor der Ausstrahlung zeigte sie den Film Dürrenmatts Kindern Ruth und Peter sowie dessen Schwester Verena. »Wir haben uns auf Anhieb gut verstanden. Ihre Erzählungen sind wahnsinnig interessant und vieles war neu für mich, weil Dürrenmatt selbst darüber nicht gesprochen hat.«
Aus dieser Begegnung entstand die Idee für diese warmherzige Annäherung an den Schriftsteller und Maler, die erstmals den Familienmensch und die Liebe zu seiner ersten Frau Lotti Dürrenmatt-Geissler in den Focus rückt. 40 Jahre waren die beiden ein unzertrennliches Paar. Die talentierte Schauspielerin gab den Beruf auf und hielt dem wortgewaltigen Dichter den Rücken frei. Sie war seine erste Leserin und Kritikerin des wortmächtigen Giganten der Weltliteratur, der für seine Kinder oft unerreichbar war und ihnen stumm gegenüber saß.
Ihre Mutter sei oft deprimiert gewesen, erzählt Peter Dürrenmatt im Film. Es müsse ein »irrsinniger Druck« auf ihr gelastet haben. Ruth ergänzt, dass auch der Vater bedrückt gewesen sei, wenn es der Mutter schlecht gegangen sei. Und wohl auch hilflos, füllt der Zuschauer des Films die Leerstelle aus, die Gisiger bewusst zur Interpretation lässt.
Über die lebendigen Erzählungen der Malerin und Komponistin Ruth und des pensionierte Pfarrer Peter entsteht der Kontext zwischen Privatem und Beruflichen. Einige Werke wird man in neuem Licht sehen. Und natürlich hat Gisiger tief in den Archiven gegraben, um den Lebensweg Dürrenmatts aus einem Pfarrershaushalt in Konolfingen im Emmental bis auf die Theaterbühnen und die Buchläden dieser Welt nachzuzeichnen. Kongenial verwebt sie dazu Aufnahmen aus Charlotte Kerrs Film »Porträt eines Planeten« von 1984 mit Statements von Dürrenmatt.
In alten schwarz-weiß-Aufnahmen gibt es ein Wiedersehen mit der unvergessenen Terese Giese oder Heinz Rühmann. »Es sind Aufnahmen aus seiner großen Zeit, die Stücke wurden gespielt, wie er sie im Kopf hatte. Heutige Aufführungen adaptieren sie und passen sie an. Das wollte ich nicht zeigen,« betont die Filmemacherin.
Auch die Kinder Dürrenmatts sehen ihre Biografien nach dem Dreh in neuem Licht, gesteht Ruth. »Ich habe Einzelheiten aus seiner Kindheit erfahren, die ich nicht wusste. Als Pfarrerssohn wurde er in der Schule gemobbt und schlich auf Umwegen nach Hause. Das gleiche ist mir passiert, weil ich die Tochter von Dürrenmatt war,« schlägt sie eine Brücke. »Er fühlte sich lange als Dichter nicht ernst genommen. Auch über meine ersten Zeichnungen wurde gelacht. Mein Lehrer an der Kunsthochschule empfahl mir sogar den Wechsel in die Psychiatrie nachdem ich ein Bild nach einem Traum abgegeben hatte.«
Aus dem Schatten ihres Vaters sind beide längst getreten. »Irgendwann verliert man den Schnuller und lässt ihn liegen, erzählt Ruth bei unserem kurzen Gespräch in der Züricher Tonhalle. «Ich lebe mit seinem Schatten. Er ist der große Baum und ich bin der kleine Trüffel.»
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