Ravensbrück und Algerien
Lebenszeugnisse der KZ-Überlebenden Germaine Tillion in deutscher Übersetzung
Die französische Widerstandskämpferin Germaine Tillion (1907-2008) gehörte zu den KZ-Häftlingen aus Ravensbrück, die im April 1945 durch das schwedische Rote Kreuz nach Skandinavien in Sicherheit gebracht worden sind. Graf Bernadotte hatte solche Rettungsaktionen kurz vor dem Zusammenbruch Nazideutschlands im Zweiten Weltkrieg durch Verhandlungen mit SS-Reichsführer Heinrich Himmler zuwege gebracht.
Germaine Tillion gelang es, eine Liste der verantwortlichen SS-Männer aus dem Lager zu schmuggeln und das Negativ eines Films mit Aufnahmen von den Beinen junger Polinnen, die in Ravensbrück Opfer medizinischer Experimente geworden waren. Eine Kameradin brachte die Operette »Le Verfügbar aux enfers« (deutscher Titel: »Verfügbar in der Unterwelt«) durch die Kontrolle. Unglaublich, aber wahr: Germaine Tillion hatte diese Revue im Herbst 1944 versteckt in einer Kiste während ihrer Arbeit im Bekleidungskommando geschrieben.
Angelehnt an die von Jacques Offenbach komponierte und 1858 in Paris uraufgeführte Operette »Orpheus in der Unterwelt« behandelt die Revue auf tragikomische Weise das harte Schicksal der als verfügbar eingestuften Frauen, die keinem festen Arbeitskommando zugeteilt waren. Für Tillion bedeutete die kreative Tätigkeit eine Möglichkeit, unter unmenschlichen Bedingungen Mensch zu bleiben, den Frauen Mut zu machen.
Tillion überlebte nur, weil die Kommunistin Grete Buber-Neumann sie im Krankenrevier am Fußende unter ihrer Bettdecke versteckte, während SS-Ärzte die Baracken durchkämmten und Häftlinge zur Ermordung aussortierten. 1000 Frauen sollen sie an dem bewussten Tag zusammengetrieben haben. Auch Germaine Tillions Mutter Emilie ist später ins nahe Jugendlager Uckermark gebracht worden, das zu diesem Zeitpunkt ein Vernichtungslager war.
Germaine schrieb einen kleinen Brief an die Mutter. »Achten Sie auf Ihren Gesundheitszustand und darauf, einen rüstigen und fröhlichen Eindruck zu machen ... Ich umarme sie ganz, ganz fest.« Doch es half nichts. Die Nachricht hat die Adressatin nicht erreicht. Die Mutter starb. Die Operette und der Brief, das sind nur zwei der berührenden und beeindruckenden Zeugnisse aus dem Leben Germaine Tillions. Das Buch »Die gestohlene Unschuld. Ein Leben zwischen Résistance und Ethnologie« versammelt Aufsätze, die zuvor überwiegend unveröffentlicht waren. In deutscher Fassung liegen sie jetzt allesamt erstmals vor - übersetzt und herausgegeben von Mechthild Gilzmer, erschienen im Berliner AvivA-Verlag.
Die Aufzeichnungen stammen aus den Jahren 1946 bis 1988, einige um 1960 herum verfasste Kapitel zum Algerienkrieg hat die Autorin noch bis ins Jahr 1999 hinein überarbeitet. Das Buch setzt ein mit den vier Forschungsexpeditionen, die Tillion als junge Ethnologin in den Jahren 1934 bis 1940 in Algerien unternahm. Sie beobachtete im Aurésgebirge am Rande der Sahara den Berberstamm der Chaouia, dessen Sprache sie erlernte, dessen Sitten sie studierte.
Nach Paris zurückgekehrt, kann sie sich nicht voll und ganz der Auswertung ihrer Erkenntnisse widmen. Denn die faschistische Wehrmacht ist in Frankreich eingefallen. Marschall Pétain kapituliert und kollaboriert. Germaine Tillion, ganz und gar Patriotin, entschließt sich sofort, Widerstand zu leisten. Ihre Gruppe am Völkerkundemuseum sammelt Informationen und gibt sie weiter. Ihr Netzwerk ist daran beteiligt, verbündete britische Soldaten nach der Niederlage Frankreichs noch schnell außer Landes zu bringen, mit Lebensmitteln und falschen Papieren zu helfen. Doch es gibt Verräter. Tillion bemüht sich vergebens, Kardinal Baudrillard zu einem Gnadengesuch für zehn zum Tode verurteilte Freunde zu bewegen. Vikar Robert Alesch liefert schließlich Tillion selbst ans Messer. Der Verräter wird 1947 für seine Taten hingerichtet.
Im Gefängnis gelingt es Tillion, viele Seiten für ihre Doktorarbeit zu schreiben. Doch das Manuskript geht verloren, als sie ins Frauen-KZ Ravensbrück überstellt wird - und nach der Befreiung widmet sie sich nach einem vergeblichen Versuch zunächst nicht mehr der Ethnologie und kümmert sich erst einmal für viele Jahre fast ausschließlich darum, den Widerstand im Völkerkundemuseum zu dokumentieren und die Ereignisse in Ravensbrück aufzuarbeiten. Von den Verbänden der französischen KZ-Überlebenden wird sie als Beobachterin zu Kriegsverbrecherprozessen entsandt und stellt dort zu ihrem eigenen Erstaunen fest, ein gewisses Mitleid mit den Angeklagten zu empfinden.
Nach der Erfahrung von Ravensbrück kann sie nicht verstehen, wie Franzosen, darunter auch Opfer des Faschismus, in Algerien Araber foltern, die für die Unabhängigkeit ihres Landes von der Kolonialmacht kämpfen. Offiziell gehört Algerien anders als Tunesien und Marokko zum Mutterland, doch die arabische Bevölkerung wird gegenüber der Minderheit der Algerienfranzosen massiv benachteiligt. Innenminister François Mitterrand, der 1981 Staatspräsident wurde, entsendet Tillion 1954 wegen ihrer Vorkenntnisse nach Algerien, um aus erster Hand Informationen über die Lage zu erlangen. Sie kehrt zurück an den Rand der Sahara, das Ziel ihrer vier Forschungsexpeditionen, und ist erschüttert wegen der inzwischen viel schlimmeren Armut, in der die Araber und die Berber leben. Gouverneur Jacques Soustelle, wie sie Ethnologe und Antifaschist, empfängt Tillion anschließend in Algier und bietet ihr an, in seinem Kabinett mitzuarbeiten. Ein Jahr lang tut sie das, richtet soziale Zentren ein, um die Lebensbedingungen der Bauern zu verbessern.
Das nächste Mal kommt Tillion 1957 mit einer internationalen Kommission nach Algerien, um die Vorwürfe der Folter in Gefängnissen und Lagern zu untersuchen. Es wird tatsächlich gefoltert und Tillion prangert dies unnachgiebig an. Heimlich trifft sie sich mit Yacef Saadi, einem von Polizei und Militär gejagten Chef der Befreiungsfront FLN. Der gefürchtete Bombenbastler Ali la Pointe ist dabei. Sie sprechen über Ravensbrück. Tillion warnt bei allem Verständnis für die arabische Seite vor einer Spirale der Gewalt. Saadi ist beeindruckt und verspricht, dass bei Attentaten der FLN so lange keine Zivilpersonen zu Schaden kommen werden, wie Frankreich auf Hinrichtungen verzichtet. Tillion möchte vermitteln. Eine Einigung scheint möglich. Saadi hält sich an die Absprache, aber es werden weiter Todesurteile vollstreckt. Tillions Bemühungen um Frieden sind am Ende so wenig erfolgreich wie die des Schriftstellers Albert Camus.
Immerhin, als Saadi 1957 gefasst und 1958 vor Gericht gestellt wird, sagt Tillion in Algier zu seinen Gunsten aus. Saadi wird zwar dennoch zum Tode verurteilt, jedoch von Charles de Gaulle begnadigt. Tillion wendet sich wieder der Ethnologie zu und verfasst richtungsweisende Schriften etwa zur Methodik ihrer Wissenschaft. Hoch geehrt stirbt sie 2008 im Alter von fast 101 Jahren.
Germaine Tillion: »Die gestohlene Unschuld. Ein Leben zwischen Résistance und Ethnologie«, AvivA, 336 Seiten, geb., 22 Euro.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.