Eine Frage der Macht
Ein neues Verfahren soll Sportmediziner in Vereinen stärken
Wo professionelle Strukturen bestehen, dort ist der Coach der Boss. Daran lässt Markus Braun keinen Zweifel: »Zwar sind ihm Sportmanager und Vereinsführung vorgesetzt, das letzte Wort bei Entscheidungen des sportlichen Tagesgeschäfts hat aber der Trainer.« Als der Mannschaftsarzt des Fußballbundesligisten Borussia Dortmund diesen Satz am Montag zum Auftakt des »12. Symposiums Hochleistungssport« im Berliner Olympiastadion sagte, wollte er es eigentlich dabei bewenden lassen.
Auf nd-Nachfrage, inwieweit die in den letzten drei Jahren der Ära Jürgen Klopp (2008-2015) auffällig lange Verletztenliste im Dortmunder Kader auf die Erfolgsinteressen des ehrgeizigen Trainers zurückzuführen war, mochte er nicht konkret werden. Musste er auch nicht. Denn das, was er zu sagen hatte, ließ tief blicken: »Heutzutage legen die Cheftrainer großen Wert auf Fitnesstrainer. Wenn die wechseln, ändern sich auch Methoden, die Fitness und Leistungsfähigkeit definieren.«
Das führe zu Daten, die nicht vergleichbar seien: »Oftmals stehen die medizinischen Interessen der Ärzte und der sportliche Erfolgsdruck der Trainer in Konflikt zueinander. Solch ein Methodentausch erschwert die Zusammenarbeit.« Ein Dilemma: Dem Arzt geht es einzig um die Gesundheit des Spielers, der Trainer muss schnell sportlich reüssieren und wählt daher bisweilen eine sportmedizinisch bedenkliche Trainingsintensität.
Markus Brauns allgemein formulierter Standpunkt lässt sich also auch als Kritik an dem Abgang des Fitnesstrainers Oliver Bartlett von Dortmund nach Salzburg im Jahr 2012 verstehen. Seitdem stieg die Verletzungsanfälligkeit innerhalb der Mannschaft an. Sven Bender, Nuri Şahin, Neven Subotić, Łukas Pisczek, Marcel Schmelzer, Ilkay Gündoğan - zahlreiche Leistungsträger hatten nun immer wieder Verletzungen zu beklagen. Besonders augenfällig ist das Beispiel Marco Reus: Es gibt nicht viele Offensivspieler in der Bundesliga, die es mit seinen fußballerischen Qualitäten aufnehmen können. Das Problem ist nur, dass der 26-Jährige sein Potenzial in den vergangenen drei Jahren selten über einen längeren Zeitraum abrufen konnte.
Der Grund ist die Verletzungshistorie seit dem Wechsel zu Borussia Dortmund im Sommer 2012: Zehenblessur, Knieprellung, Adduktorenbeschwerden, Innenbandanriss am Sprunggelenk, Bluterguss am Sprunggelenk, Knochenödem, zwei Muskelfaserrisse, zwei Außenbandrisse am Sprunggelenk, immer wieder muskuläre Probleme - und im Juni 2014 mit einem Syndesmosebandanriss die bitterste Verletzung seiner Laufbahn, die ihn die Teilnahme an der Weltmeisterschaft in Brasilien kostete.
Zwischen 2009 und 2012 spielte Reus für Borussia Mönchengladbach. Dort fiel er nur einmal länger aus: Im November 2011 brach er sich einen Zeh und musste 17 Tage pausieren. Die Frage, ob es letztlich das auf überfallartige Konter ausgerichtete Vollgasspiel des Jürgen Klopp war, das zu so vielen Verletzungen führte, wurde jahrelang im Jubel ob des großen Erfolgs unbeantwortet gelassen.
Unter dem neuen Trainer Thomas Tuchel könnte sich an der Lage etwas ändern. Denn die gesetzliche Unfallversicherung VBG hat sich zum Ziel gesetzt, die sportmedizinische Betreuung im Profisport in den Bereichen Prävention und Rehabilitation zu verbessern. Eckehard Froese, der Leiter Versicherung, Leistungen und Regress der VBG, konstatierte bei besagtem Symposium »im Sport die höchste Beitragsbelastung aller Versicherten«. Um einen weiteren Anstieg zu verhindern, startet im Januar 2016 das zunächst auf drei Jahre angelegte »Mannschaftsarzt-Verfahren«. Dabei handele es sich um ein für Vereine freiwilliges »Maßnahmenpaket, das Standards setzt für eine präventiv ausgerichtete sportmedizinische Betreuung im Mannschaftssport«.
So solle es künftig standardisierte Bögen zu sportmedizinischen Untersuchungen geben, in denen die ärztliche Gefährdungsbeurteilung eine zentrale Rolle spiele. Entsprechendes soll es auch für die Präventionsdiagnostik geben, im Zuge derer die Ärzte dem Trainerstab individuelle und mannschaftsspezifische Empfehlungen für die Trainingsgestaltung und die Regeneration vermitteln.
Für das Programm, so Froese, haben sich bereits 110 Vereine aus allen Sportarten beworben - darunter befinde sich neben Borussia Dortmund auch der FC Bayern München, der sich mit dem Unfallchirurgen Volker Braun als einziger deutscher Profifußballklub einen fest angestellten Teamarzt leistet. Er zeigte sich ebenso wie sein Namensvetter aus Dortmund beim »Symposium Hochleistungssport« begeistert von dem neuen Verfahren: »Verletzungen werden sich in Kontaktsportarten nie ganz verhindern lassen. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich die Anfälligkeit der Spieler aber beeinflussen.« Hier sei es wichtig, dass nun ein standardisiertes Verfahren eingeführt werde.
Insbesondere im Profifußball, in dem sich das Leitbild des idealen Trainers vor einigen Jahren vom wortkarg-knorrigen Übungsleiter zum weltläufig-intellektuellen Fußballlehrer gewandelt hat, sind viele Ärzte skeptisch. Startrainer respektieren die medizinische Kompetenz des behandelnden Teamarztes offenbar immer weniger. Dass dieses Gerangel um die Expertise für die Ärzte zur veritablen Machtfrage avancieren kann, bewies im Frühjahr die Posse um den langjährigen Bayern-Mannschaftsarzt Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, der es ob der ihm zugeschriebenen fachlichen Brillanz als einziger seiner Zunft zu einem Promistatus gebracht hatte: Bayerns Trainer Pep Guardiola und Vereinsboss Karl-Heinz Rummennigge hatten ihn wegen der zu langsamen Genesung der für ihre hohe Verletzungsanfälligkeit bekannten Außenbahnspieler Franck Ribéry und Arjen Robben kritisiert, woraufhin Müller-Wohlfahrt empört kündigte.
Die Mannschaftsärzte dürften auch durch diesen Fall animiert worden sein, sich für das neue Verfahren einzusetzen. Schließlich brächte dessen Einführung eine Stärkung des medizinischen Fachpersonals mit sich.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.