Dominanz des Westens vor dem Ende

Peter Wahl plädiert in der Flüchtlingsdebatte für einen aufklärenden Antiimperialismus auf der Höhe der Zeit

  • Peter Wahl
  • Lesedauer: 4 Min.

Es gibt zahlreiche Fluchtursachen: Krieg, Bürgerkrieg, Diktatur, Armut, Umweltkatastrophen. Dass die meisten in der einen oder anderen Form mit Kapitalismus zu tun haben, ist unter Linken unumstritten.

Okay, je konkreter die Analyse wird, umso komplexere Zusammenhänge werden sichtbar, so wie man durch die Lupe mehr sieht als mit bloßem Auge. So muss man beim Konfliktknäuel in Nahost neben dem Regime Change die Rolle der Regimes in Syrien, Irak und Libyen in die Analyse einbeziehen, die Scheichs am Golf und das saudische Kopf-ab-Regime, das religiöse Sektierertum der Ajatollahs und die Hegemonialkämpfe untereinander. Aber auch da ließe sich mit dem Verweis auf die Kolonialpolitik Frankreichs und Großbritanniens nach dem Ende des Osmanischen Reiches oder auf die Funktion des Erdöls noch eine historische Mitverantwortung des Imperialismus ausmachen.

Konflikte, ihre Dynamik und Eskalation entstehen selten durch einen einzigen Faktor, sondern durch multiple Wechselwirkungen zwischen Akteuren, Strukturen, aktuellen Ereignissen und historischen Tiefenströmungen. Konflikte haben aber auch Grundmuster. Trotz der vielen Bäume ist da immer noch der Wald. Deshalb ist dem Fazit Conrad Schuhlers, dass die Hauptursache - also nicht die einzige! - für die globalen Flüchtlingsströme »im globalen Kapitalismus, mit seiner Führungsmacht USA (liegt)«, nicht zu widersprechen. Einen »bornierten Antiimperialismus«, vor dem Ingar Solty warnt, braucht niemand. Gefragt ist ein informierter, aufgeklärter und aufklärender Antiimperialismus auf der Höhe der Zeit.

Allerdings ist der nicht einfach zu haben. Das internationale System befindet sich im Übergang zur Multipolarität. Anders als die bipolare Welt des Kalten Krieges und die unipolare US-Dominanz ist diese komplexer, dynamischer und instabiler. Das legt die Latte für eine kritische Theorie der internationalen Beziehungen und linke Außenpolitik höher.

Vorreiter des Wandels ist Russland, das sowohl eigenständig als auch im Verbund mit den BRICS-Staaten - »eine demokratischere und gerechtere multipolare Weltordnung« anstrebt, wie es in der Erklärung des BRICS-Gipfels 2009 heißt. Dieses anti-hegemoniale Programm konvergiert objektiv mit dem Ziel einer emanzipativen internationalen Ordnung. Manchem Linken mag das peinlich sein aus Angst, in der Schublade »Putinversteher« zu landen. Oder sich Koalitionschancen mit SPD und Grünen zu versauen. Aber so wie Kritik an den Feinden unserer Feinde zu üben ist, wenn dies notwendig ist, so muss man genauso unbestechlich Übereinstimmungen mit ihnen zur Kenntnis nehmen. Man wird nicht zur Fünften Kolonne Moskaus, wenn man Putins Coup mit dem Abzug der syrischen Chemiewaffen, die 2013 eine Wiederholung der Libyen-Nummer des Westens verhinderte, für gut hält.

Der Westen hat Schwierigkeiten sich daran zu gewöhnen, dass die 500-jährige Epoche endet, in der Europa und sein nordamerikanischer Ableger dem Rest der Welt sagte, wo es lang geht. Das erklärt den affektiven Überschuss in der Haltung zu Putin und die obsessive Personalisierung und Feindbildproduktion.

Dass Stefan Liebich dem Tribut zollt und eine »neuen Phase des Mordens und Tötens« behauptet, wäre von einem pazifistischen Standpunkt aus konsequent und respektabel. Aber Liebich ist bekanntlich kein Pazifist. Auch ist nicht bekannt, dass er es je gewagt hätte, über die Kriege der Bundeswehr in Kategorien von »Mord« zu sprechen. Als Exponent des Realoflügels seiner Partei spricht er strategisch. Daher ist sein Text voll anschlussfähig an Steinmeier - was nicht ausschließt, dass seine Vorschläge für eine politische Lösung richtig sind. Sie stimmen übrigens auch mit denen Russlands weitgehend überein. Dass aber ein so profunder Kenner der internationalen Politik wie Solty, Putin »leidenschaftliches« Bombardieren unterschiebt, zeugt nicht gerade von Unabhängigkeit gegenüber dem herrschenden Putinbashing.

Eine eigenständige linke Außenpolitik wird immer häufiger Ambivalenzen, Widersprüche und Dilemmata aushalten müssen. Äquidistanz aus Prinzip ist auch keine Lösung. Um die einzelfallbezogene Analyse und wechselnde und differenzierte Allianzen kommen wir nicht herum. Die Zeiten prinzipieller und dauerhafter Parteinahme sind vorbei.

Die Texte von Schuhler, Solty und Liebich sind auf der nd-Homepage unter dasND.de/Imperialismus nachzulesen.

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